6.

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Ben

In meinem Kopf hat es eine Kurzschlussreaktion gegeben.
Es wird daran liegen, dass ich seit drei Tagen nicht mehr geschlafen habe und die strafende Stimme in meinem Schädel immer lauter wird.
Ich habe stundenlang vor meinem Fenster gestanden und an den Punkt gestarrt, an dem Eric mit Ophelia stehen geblieben war.

Mein Gespräch mit ihr wird mir wahrscheinlich den Rest gegeben haben. Es hat mich daran erinnert, dass hier kein Platz für mich ist, in diesem Haus, auf diesem Grundstück. Auf dieser Welt.
Und die perfekte Lösung steht vor unserer Haustür. Ophelias Mini.
Der weiße Lack glänzt wie frisch poliert, die Schlüssel liegen ordentlich auf der Anrichte im Flur.

Ich denke nicht nach, ich greife die Schlüssel - so schnell, dass ich meinen Knöchel an der Holzkante der Anrichte aufschlage.
Mit zitternden Fingern stecke ich mir eine Zigarette an. Ophelia hasst es, wenn ich ihr geliebtes Auto entwende, ohne zu fragen. Noch mehr hasst sie es, wenn ich darin rauche und ihre Ledersitze mit dem scharfen Geruch des Tabaks durchtränke.

Ein böses Grinsen liegt auf meinen Lippen, als ich mich in den nach Veilchen stinkenden Wagen schiebe.
Ich nehme einen tiefen Zug und puste den grauen Rauch gegen die Windschutzscheibe. Er prallt zurück in mein Gesicht und ich schließe die Augen, starte den Motor.
Ich weiß nicht, wo ich hinfahren werde.

Irgendwo hin. Irgendwo hin, wo ich mich zusammenrollen kann und nie mehr aufstehen muss.
Ich trete das Gas durch und brettere die ausgestorbene Straße hinunter. Hoffentlich denkt einer der Nachbarn mit Stock im Arsch, dass Ophelia übergeschnappt ist.
Ich verbinde mein Handy mit ihrem Aux-Kable und drehe einen Rage Against The Machine Song auf.
Der Bass dröhnt in der Karosserie, als ich an einer Ampel halten muss.

Ich bin der erste an der Linie, die mich wie eine unsichtbare Wand aufhalten soll. Ein Truck brettert vor mir über den zerrissenen Asphalt.
Mein Fuß zuckt. Ich könnte ... Ich könnte einfach von der Bremse gehen, aufs Gas treten und auf ihn zurasen, einfach über die Kreuzung fahren. Wenn mich der Truck nicht mitreißen wird, wird es eben der nächste SUV tun.

Eine Gruppe Jugendlicher läuft neben mir auf dem Bürgersteig. Sie werfen mir im Kollektiv seltsame Blicke zu. Die Musik passt nicht zum Auto.
Oder können sie meine Gedanken hören? Stelle ich mir die Szene so deutlich vor, dass sich eine Gedankenblase über dem Metalldach gebildet hat und sie in einen Kopf blicken können?

Ich begegne ihren verwirrten Augen mit einem grimmigen Blick und starre sie nieder, stelle mir dabei vor, wie ich meine Faust auf ihre Gesichter zu schnellen lasse, während sie bereits auf dem Boden liegen. Das Blut aus ihren Nasen und Mündern würde sich auf meinem Handrücken verteilen und sich mit meinem eigenen mischen.
Ein Hupen reißt mich aus meinen Gewaltfantasien. Glück für die kleinen Fucker.

Ich blicke kurz in den Rückspiegel, der immer noch auf Ophelias Körpergröße eingestellt ist und mir deswegen lediglich die unruhigen Hände meines Hintermannes präsentiert.
Ich knurre, ein animalischer Ton füllt das Auto. Dann trete ich das Gas durch. Der Motor protestiert, heult auf und klingt so ungesund wie meine geschundenen Stimmbänder.

Ich überschreite die Geschwindigkeitsbeschränkung mit einem Flattern im Magen, das mich zum ersten Mal seit Tagen daran erinnert, dass ich noch am Leben bin.
Impulsiv nehme ich die Abzweigung, die mich aus Fitchburg hinausführt. Als ich die ersten Industrielagerhallen passiere, frage ich mich, warum ich das hier gerade mache.

Warum bin ich aufgestanden und habe mich in Ophelias Auto gesetzt? Ich hätte genauso gut liegen bleiben und Gitarre spielen können.
Das wäre jedenfalls die Option gewesen, die mir keinen Ärger eingebracht hätte - vorausgesetzt, Dad wäre nicht frühzeitig nach Hause gekommen und hätte sich über den Lärm beschwert und mir gedroht meinen Verstärker mit in sein Büro zu nehmen.

Einmal habe ich unsere Auseinandersetzung so weit kommen lassen und ihm gesagt, er solle ihn mitnehmen, am besten gleich meine ganzen Boxen, die gesamte Anlage. Er hat mich angesehen, als wäre ich geisteskrank und hat die Tür zugeknallt.
Seitdem weiß ich, dass jede Drohung ein leeres Versprechen ist. Keine meiner Handlungen zieht eine Konsequenz nach sich. Es wird nur geschwiegen, gestarrt, herablassend kommentiert, ignoriert und mit Verachtung gestraft.

Daran bin ich gewöhnt.
Ich umfasse das Lenkrad mit aller Kraft.
Plötzlich weiß ich wieder, warum ich hier draußen bin, jetzt schon außerhalb der Stadt. Weil ich meine Chance, mit Eric zu reden, verpasst habe. Und ich habe ihm bis heute nicht auf seine lächerliche, aus der Luft gegriffene Textnachricht geantwortet.

Ich rase diese Straße entlang und weiß, dass ich ihm nie antworten werde. Zu viel Zeit ist seit Samstag vergangen.
Ich würde sowieso nie die richtigen Worte finden.
Hey. Wie geht es dir?
Gott, nein!

Wer bist du?
Als hätte ich je die Überwindung gefunden, seine Nummer zu löschen.
Wenn ich ehrlich sein würde, würde ich schreiben: Wie kannst du es wagen mir zu schreiben? Hör auf deine Zeit mit mir zu verschwenden. Hoffnungsloser Fall - erinnerst du dich? Lösch meine Nummer oder ich blockiere dich.

Und genau deswegen kann ich dankbar sein, dass ich ihm nie impulsiv zurückgeschrieben habe. Ich hätte sonst ein dämliches Ultimatum wie; Lösch meine Nummer oder ich blockiere dich, gestellt.
Außerdem hätte er mich dann gesehen, er wäre hochgekommen, in mein Zimmer.
Ich frage mich, ob er sich zu mir auf das Bett gesetzt hätte. Hätte er seinen kleinen Finger über meinen gelegt? Heimlich und verstohlen, so als wäre keine Zeit zwischen uns vergangen, die uns entfremdet hat?

Ich schüttele den Kopf. Der Wagen gerät ins Schlenkern. Ein hysterisches Lachen löst sich aus meiner rauen Kehle und mischt sich in die Klänge der E-Gitarren.
Er hätte mich gesehen, meinen erbärmlichen Zustand. Meine fettigen Haare, meine unreine Haut, die krüppeligen Bartstoppeln.
Ich bin kein Mann so wie er. Ich bin ein trauriges, graues Etwas.

Unbemerkt lasse ich meine Finger durch meine borstigen Haare fahren. Sie sind nicht mehr so weich, wie sie einst waren. Bestimmt würde er seine Finger jetzt nicht mehr durch sie rinnen lassen.
Es würde ihn nicht mehr erfüllen meinen Kopf zu kraulen. Die schwarze Farbe hat die dunkle Seide auf meinem Haupt verätzt.

Ich frage mich, was er zu mir gesagt hätte, wenn wir uns gegenübergestanden hätten.
Ich male mir sein Gesicht aus. Überraschung, Erleichterung. Oder doch Ekel und Schock?
Ich kann seine ruhige Stimme in meinem Ohr hören, ich habe den Klang von den mir bekannten Silben auswendig gelernt, als ich vor Jahren seine Nummer von einem Prepaid-Handy aus angerufen habe und mich so oft mit seiner Mailbox verbinden ließ, dass ich seine flapsige Ansage im Schlaf mitsprechen konnte.

Er wird mich aus reiner Neugier sehen wollen. Aus keinem anderen Grund. Er hat sich ein Leben aufgebaut. Er hat weitergemacht.
Alles ist egal.
Ich frage mich, was passieren würde, wenn ich das Steuer einfach herumreißen würde.
Und dann, nur um es einmal auszuprobieren, tue ich es.

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Song: Falling Asleep At The Wheel (Live) - Holly Humberstone (Die Liveversion musste irgendwie sein ... sie fühlt sich special an <3)

Hello my Loves <3
Bisschen später heute, viel zu tun ... Ich hoffe, ihr hattet heute was Schönes im Stiefel!

Ich muss es leider kurz machen, sending u all my Love!
Lisa xoxo

almost Love [boyxboy]✔Where stories live. Discover now