1.

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Ben

Von unten dringt laute Jazz-Musik durch meine Wände. Ich kann entferntes Lachen hören. Einmal knallt die Haustür zu.
Es ist verrückt, wie dieses Haus von Totenstille in den Vollbetrieb schalten kann.
Ich strecke mich auf dem Bett aus, spüre dabei jedes meiner steifen Gelenke.

Ich schließe die Augen und zähle bis zehn, versuche mein Temperament zu zügeln. Wenn ich jetzt meine Anlage aufdrehen würde, würde es kaum länger als eine Minute dauern, bis Dad in dieses Zimmer gestürmt käme, um mir eigenhändig den Hals umzudrehen.
Das Zählen hilft nicht. Auch nicht das Luftanhalten oder das Schreien in die Kissen und erst recht nicht die Schwärze vor meinen Augen.

Ich nehme es meiner Schwester jeden Tag übel, dass sie sich Dad so beugt. Aber an Abenden wie diesen beneide ich sie für ihre Anpassungsfähigkeit. Sie kann die Luft anhalten, bis Zehn zählen, den Rücken durchstrecken und ein Lächeln aufsetzen.
Ich hasse sie. Wenn sie sich gegen unsere Eltern wehren würde, wäre nicht nur ich das schwarze Schaf, der Fehltritt der Familie. Aber diese Spielkarte hat sie mir liebend gern zugeschoben.

Ich rolle mich auf die Seite und berühre beinahe mein Handy mit der Nasenspitze.
Ich habe es kurz vor Beginn der Benefizgala quer durch mein Zimmer geschleudert und danach ausgestellt.
Ich komme heute. Sehe ich dich?

Diese Worte konnte ich mir nicht länger als ein paar Sekunden ansehen - auch wenn sich diese nach Stunden angefühlt haben.
Ich stelle mir vor, ich bin an mein Bett gefesselt. Ketten aus Eisen und Stahl halten mich auf der weichen Matratze gefangen, hindern mich, die weiße Tür hinter mir aufzustoßen und nach unten zu gehen, mich unter die feine Gesellschaft zu mischen in meiner Jogginghose mit den Senfflecken und meinem AC/DC-T-Shirt mit den Löchern unter den Armen.

Mom würde mit ziemlicher Sicherheit fast in Ohnmacht fallen. Wenn sie dies nicht gleich auf Anhieb täte, würde sie in die Küche flüchten und sich dort bis zur Ohnmacht besaufen.
Dad würde mich aus dem Raum zerren, während Ophelia mich mit ihren unschuldigen braunen Augen vorwurfsvoll ansehen und dafür sorgen würde, die teuren Gäste zu beschäftigen, damit niemand den ausgestoßenen Sohn zu Gesicht bekäme.

Ich verberge mein Gesicht hinter den Händen. Ich will nicht hier sein, nicht hier liegen. Ich ertrage kaum eine weitere Sekunde, in der mein verräterischer Körper meine Lungen wieder mit Luft auffüllt und mich am Leben erhält. Eine einzelne Träne rollt aus meinem Augenwinkel und ich wische sie gewaltsam und mit Nachdruck fort.

Wenn meine Stimme nicht schon ganz heiser wäre, würde ich erneut in die Kissen brüllen, aber dazu müsste ich mich aufrichten. Und das will ich nicht.
Sehe ich dich?
Drei kleine, unbedeutende Wort und sie geistern durch meinen Kopf, lassen mich nicht in Ruhe. Ich höre, wie eine Stimme, die ich vergessen wollte, sie ausspricht, langsam über die Zunge rollen lässt, beinahe genüsslich jede Silbe auskostet.

Da ich vor diesen Worten in geschriebener Form fliehe, kann ich nicht mal meine Sinne mit Musik betäuben. Ich bin gezwungen in der gestörten Stille meines Zimmers auszuharren.
Irgendwann ziehe ich die Knie an und umschlinge sie mit meinen Armen. So liege ich da und warte auf weitere Tränen, die aus meinen Augen entkommen könnten. Doch nichts passiert.

Die übliche Taubheit ist wieder über mich gekommen.
Ich spüre ... eigentlich nichts mehr.
Einzelne Strähnen meiner borstigen Haare stechen in meine Augen. Das spüre ich noch.
Nach einer Ewigkeit, wahrscheinlich einer halben Stunde, stehe ich auf, um meine Gitarre zu holen.

Sie lehnt in der Ecke des Zimmers, zwischen Schrank und Schreibtisch, wird von Mondlicht angestrahlt.
Mittlerweile habe ich mich an das Gegacker von angetrunkenen Hausfrauen gewöhnt, das ab und an durch meine Tür schwappt.

almost Love [boyxboy]✔Where stories live. Discover now