Kapitel 17 (He)

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Seit dem Vorfall hatte ich nicht mehr mit Melody gesprochen - und das war auch gut so. Ich wollte sie nicht sehen. Ich wollte niemanden sehen. Nicht einmal mich selbst. Ich ekelte mich an. Damals hatte ich mir geschworen, es nie wieder zu tun und diesen Schwur hatte ich nun gebrochen. Ich war gebrochen. Auch von Lucy hatte ich mich so gut es ging ferngehalten. Sie machte sich Sorgen, und das tat mir auch leid, aber ich wollte einfach meine Ruhe vor allen, vor allem vor der Welt.

Inzwischen war es wieder Mittwoch geworden. Melody ging mir aus dem Weg. Es war genau das, was ich wollte, und dennoch gefiel es mir nicht. Ich hatte sie öfter mit einem Typen zusammen gesehen, in der Raucherecke. Ich wollte nicht, dass Melody mit Rauchen anfing und hätte sie am liebsten jedes Mal dort weggezogen, wenn ihr eine Zigarette vor die Nase gehalten wurde, aber ich tat es nicht. Stattdessen sah ich ihr missmutig dabei zu, wie sie sich das Todeszeug in ihren Mund steckte und es auch noch zu genießen schien.

Melody schien ziemlich viel Spaß mit ihm zu haben. Sie lachten viel zusammen, wobei ich mir nicht sicher war, was ich von der ganzen Sache halten soll. Klar; ich freute mich, dass sie lachte - jedoch wäre ich gern derjenige gewesen, der sie zu genau diesem Lachen brachte.

Lucy hatte mich wie jeden Mittwochnachmittag vor dem Gebäude der Selbsthilfegruppe abesetzt. Sie war noch immer der Meinung, dass diese mir half.
"Ich kann dich danach leider nicht abholen kommen. Cassie geht es nicht so gut und ich soll ihr mit ihrem Baby unter die Arme greifen. Ich hoffe, das ist nicht schlimm", sagte Lucy entschuldigend. "Ein bisschen Bewegung an der frischen Luft hat außerdem noch niemanden geschadet." Sie lachte und fuhr dann davon, ohne auf eine Antwort meinerseits zu warten.
Ich bewunderte Cassie dafür, dass es mit 23 Jahren bereits schaffte ein Kind großzuziehen. Wahrscheinlich wäre ich nicht einmal in der Lage, mich richtig um einen Goldfisch zu kümmern, sodass er mehr als drei Tage überlebte.

Ich betrat das Gebäude und lief die Treppen nach oben, bis ich im richtigen Stockwerk angekommen war. Ich öffnete die Tür und betrat den Raum. Einige waren schon da, einige fehlten noch - darunter auch Melody.

"Hallo Luke! Schön, dass du gekommen bist", sagte Christina und lächelte mich freundlich an.

Schweigend setzte ich mich und wartete mit den anderen, bis alle da waren. Melody kam als Letzte. "Ich dachte schon, du kommst gar nicht mehr", sagte die Gruppenleiterin zu ihr. Sie murmelte nur ein kurzes "Tut mir Leid." Und setzte sich dann links neben mich, da sonst alle Stühle besetzt waren. Sie schien nicht gerade begeistert darüber zu sein, denn sie nahm nur widerwillig und mit einem grimmigen Blick Platz.

"Da wir nun komplett sind, können wir ja anfangen. Ich würde heute gern mit euch über eure Erfahrungen sprechen. Als erstes..." Ab da an hörte ich nicht mehr zu, sondern ging einfach meinen Gedanken nach. Mich interessierte das Ganze eh nicht. Ich konnte nur hoffen, dass ich nicht angesprochen wurde.

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Ich hatte sogar Glück gehabt. Ich musste nicht einmal etwas sagen, doch gerade als ich gehen wollte, wurde ich von Christina aufgehalten. "Luke, warte mal kurz!" Genervt drehte ich mich um und ging zu ihr. "Du bist immer so still und beteiligst dich überhaupt nicht an den Gesprächen. Du bist nicht freiwillig hier, oder?"

"Wer ist das schon..", sagte ich abwesend. Sie sah mich scharf an. "Wenn du dich nicht einbringst und dir das Ganze hier egal ist, brauchst du gar nicht erst zu kommen. Ihr seid alle hier, um euch gegenseitig zu helfen. Nicht zum Zeitvertreib." Ich schwieg und nickte nur. Irgendwo hatte sie ja Recht. Ich wollte halt nur nicht, dass man mir hilft. Es war mein Leben, da brauchte ich niemanden, der mir darin herumpfuschte.
"Denk mal drüber nach. Bis nächste Woche Luke", sagte Christina abschließend und ließ mich gehen. Eilig verließ ich den Raum und ging nach unten, um das Gebäude endlich verlassen zu können. Zwar konnte ich sie irgendwo verstehen - ich würde es auch nicht wollen, dass man meine Arbeit so respektlos behandelte, aber ich konnte nicht anders. Schließlich war dies schon immer meine Art gewesen.

Draußen sah ich Melody, wie sie gerade mit jemanden telefonierte - wahrscheinlich mit ihrer Mutter oder jemand anderem aus ihrer Familie. Ich ging auf sie zu und tippte ihr auf die Schulter. Erschrocken zuckte sie zusammen und drehte sich schlagartig um. Schnell verabschiedete sie sich von der Person am anderen Ende und steckte dann ihr Handy weg, bevor sie mich missbilligend ansah. "Was willst du?"
Ja.. Gute Frage. Was wollte ich eigentlich von ihr? Warum stand ich nun genau da, wo ich stand und war nicht einfach gegangen? Ich wusste es nicht, also blieb mir nichts anderes übrig, als die Frage zu stellen, die mir auf der Zunge brannte, auch wenn ich wusste, dass dies nicht unbedingt die beste Möglichkeit war, um ein vernünftiges Gespräch zu starten.

"Wer ist der Typ, mit dem du in letzter Zeit immer abhängst?"

Verdutzt sah sie mich an, dann änderte ihr Blick sich zu verschmitzt. "Bist du eifersüchtig?", fragte sie mit einem Grinsen.
Anstatt ihr zu antworten, seufzte ich nur genervt über ihr kindisches Verhalten und fragte mich hochgezogener Augenbraue: "Warum sollte ich?"
Melody zuckte nur mit den Schultern und beantwortete dann meine Frage: "Adam." Ich machte nur ein kurzes "Ah" und nickte. Mir war die Situation äußerst unangenehm.
Für eine ganz Weile standen wir anschließend einfach nur in der Gegend herum und lauschten der peinlichen Stille. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit untebrach Melody diese dann endlich. "Wie ich sehe geht es deiner Wange besser", sagte sie und wies auf die besagte Stelle. Ich fasste mit einer Hand danach und nickte dann kurz.

"Sorry nochmal wegen der Situation. Ich hätte eher eingreifen sollen. Der Typ ist ja irre!" Sie sah mich entschuldigend an. Anscheinend war sie nicht mehr beleidigt, was mich auf eine Art unglaublich freute. Ich nickte wieder und murmelte ein leises "Ja.."
Melody sah mich sofort misstrauisch an, runzelte die Stirn und fragte zögerlich: "Ist etwas?" Pause. "Du hast doch nichts gemacht... richtig?"

Ich konnte spüren, wie sich ihr Blick durch meinen Körper bohrte und direkt in meinen Kopf zu schauen schien und betete, dass sie nicht weiter nachhakte, sondern schnell das Thema wechselte. Stattdessen fragte sie nun mit besorgt wirkender Stimme: "Du hast doch nicht wieder getrunken oder?" Sie klang nun nicht mehr so anklagend wie vorher, aber immer noch so, dass es mir unangenehm war. Bestimmt schüttelte ich den Kopf und sie atmete erleichtert auf, zuckte aber kurze Zeit später zusammen und sah mich resigniert an, so als wäre ihr soeben eine schreckliche Vorahnung gekommen.

"Du hast dich auch nicht wieder geschnitten..", sie wurde mit jedem Wort leiser und zum Schluss flüsterte sie fast. "..oder?"

Ich antwortete nicht. Ich wollte sie nicht anlügen, aber die Wahrheit sagen konnte ich erst recht nicht. Was also sollte ich tun? Sie bemerkte sofort die Anspannung in meinem Körper und ihr Blick wechselte von besorgt zu unendlich traurig. "Zeig es mir", sagte sie mit zusammengepressten Lippen. Ihre Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. Sie schien mit den Tränen zu kämpfen und in dem Moment hätte ich mir am liebsten selbst eine gescheuert.

Wie in Zeitlupe rollte ich ganz langsam den Ärmel meiner Jacke nach oben. Kurz bevor es zu sehen war, hielt ich inne, atmete tief durch und rollte dann das letzte Stück nach oben, sodass sie alles sehen konnte. Ich hörte, wie sie entsetzt und enttäuscht zugleich seufzte. Zitternd hob sie ihren rechten Arm und strich vorsichtig die inzwischen verkrusteten Schnitte entlang. Exakt sieben. Sieben Jahre zerstörte Kindheit. Eine erste Träne lief ihre Wange hinunter. "Das hätte nicht sein müssen", presste sie hervor. "Das weißt du, oder?" Ich seufzte laut und nickte dann.
"Warum also hast du es getan?" Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn aber wieder, als mir nichts einfiel. "Ich weiß es nicht..", hauchte ich kaum hörbar. Was sollte ich auch sonst anderes sagen? Sie würde es nie verstehen - keiner hatte es bisher verstanden.
"Du weißt es nicht", missbilligend wiederholte sie meine Worte, während sie den Kopf schüttelte. Ihr liefen jetzt mehrere Tränen das Gesicht hinab, ohne auch nur einen Schluchzer ihrerseits. Ihre Hand ruhte noch immer auf meinem Arm, doch ich nahm ihn plötzlich ruckartig weg und zog sie in eine feste Umarmung. "Es tut mir Leid", flüsterte ich in ihre Haare, während ich meine Augen geschlossen hatte. "Ich weiß", antwortete sie und drückte sich enger an mich. Dann schwiegen wir und ich genoss den Moment. Eine Umarmung sagte manchmal mehr als tausend Worte, mehr als hunderte Tränen.

Ein plötzliches Hupen zeriss diesen Moment jedoch genauso plötzlich, wie er gekommen war. Wir lösten uns ruckartig voneinander und sahen in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Eine Frau saß in einem schwarzen Auto und winkte Melody zu.
"Meine Mutter", sagte diese beschämt und sah mich mit entschuldigendem Blick an. Ich nickte nur und zog meinen Ärmel zurück. Sie griff nach meiner Hand und flüsterte ein "Bleib absofort bitte stark." Dann eilte sie zu dem Auto und stieg ein.

Ich blieb noch eine Weile so stehen, sah dem davonfahrenden Auto nach und begab mich dann schließlich ebenfalls auf den Heimweg.

Can a boy change your life? *wird überarbeitet*Where stories live. Discover now