Kapitel 16

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Etwas aus der Vergangenheit meiner Lehrerin zu erfahren, veränderte mein Bild von ihr. Hinter ihrer Fassade steckte eine Kindheit, eine Geschichte, die an manchen Stellen vielleicht nicht ganz so makellos war, wie sie nach außen hin wirkte. Ich wusste, dass Frau Lorenz mich nur so viel wissen ließ wie sie es wollte und eigentlich tauchten mit jeder Antwort noch mehr Fragen in mir auf, doch dass sie mir Dinge aus ihrem persönlichen Leben erzählte hatte zur Folge, dass sich unsere Beziehung plötzlich viel vertrauter anfühlte. Auf der anderen Seite, fragte sie mich kaum etwas, wieso sollte sie auch. Manchmal hatte ich das Gefühl es wäre aus dem Grund, da sie sowieso schon alles über mich wusste, auch wenn das gar nicht möglich war.

"Glauben Sie Menschen können sich verändern?", rutschte es aus mir heraus. Endlich hatte ich das Gefühl, meine Nervosität würde sinken und Platz für eine sich ausbreitende Ruhe schaffen. Wir bogen in die Einfahrtsstraße, wo die anständigen Einfamilienhäuser unter dem grauen Himmel verlassen und trist wirkten. Die Frage hatte mich seit der Nachricht über meine Mutter beschäftigt und es tat gut sie endlich auszusprechen, auch wenn Frau Lorenz mich nun wahrscheinlich für komplett übergeschnappt hielt.

"Ja", ich hatte keine so kurze und bündige Antwort erwartet und blickte sie überrascht an. Sie wirkte so sicher, dass es mir schwerfiel ihr nicht zu glauben. Ihre klare Antwort riss mich kurz aus dem Konzept, doch dann weckte mich das Interesse.

"Und sollte man so einer, veränderten Person für das was sie gemacht hat verzeihen...?"

Frau Lorenz schwieg und ich befürchtete kurz, ich wäre ihr mit meiner Fragerei auf die Nerven gegangen. Sie parkte den Wagen geschickt vor meinem Zuhause an die Bordsteinkante und schaltete den Motor ab. Meine Lehrerin drehte sich zu mir, um mich anblicken zu können und betrachtete mich nachdenklich für wenige Sekunden. Sie schien ihre Antwort bedachtsam abzuwägen.

"Das hängt von der Situation ab. Hat die Person sich wirklich verändert? Ist sie gewissenhaft? Menschen die erwarten, dass man ihnen verzeiht, sind sich ihrer wahren Schuld vielleicht nicht bewusst. Aber wie gesagt, man kann diese Frage nicht allgemeingültig beantworten... es kommt auf die Fehler an, die begangen wurden. Manchmal hilft es sich in sein Gegenüber hineinzuversetzen, vielleicht findet man ja einen Weg, den Grund ihres Handelns zu verstehen", ihre Stimme war sachlich und ich meinte die Frau Lorenz zu sehen, die gewöhnlich im Unterricht auftrat. Ich nickte leicht und ließ meinen Blick nach draußen schweifen, wo der Regen nun endlich etwas nachgelassen hatte. Was sie sagte, war einleuchtend und während wir da weiterhin schweigend saßen, reifte in mir ein Entschluss.

"Ich denke, ich sollte gehen", unterbrach ich schließlich die Stille. Ich löste den Sicherheitsgurt und erblickte dann das blaue T-Shirt welches zerknüllt in meinem Schoß lag.

"Und...ähm...danke für das T-Shirt. Ich kann es waschen, wenn Sie wollen....es ist ein bisschen zerknittert...", ich machte Anstalten es in meine Tasche zu stopfen, doch warme Finger ergriffen mein Handgelenk und hielten mich davon ab. Ich spürte wie mein Puls in die Höhe schoss und rasend dort gegen ihre Finger trommelte, wo diese sich gegen meine Haut pressten. Eine Gänsehaut kroch über meine Arme bis hin zu meinem Rücken, alles kribbelte.

"Nein, gib es mir", sagte sie ruhig doch entschieden. Die Veränderung in ihrem Tonfall ließ mich sofort aufschauen und ich versank auf Anhieb in ihren dunklen Augen. Ich erwachte erst, als sie für einen Herzschlag den Augenkontakt abbrach und ihr Blick flüchtig meine Lippen erhaschte. Ein Feuer in meinem Gesicht! Ich drückte ihr schnell das T-Shirt in die Hand und grapschte blind nach meiner Tasche die zu meinen Füßen lag.

"Ok...ähm.. danke für alles und...tschüss", stolperte ich ungeschickt über meine eigenen Worte. Meine Lehrerin betrachtete meinen Fluchtversuch mit einem belustigten Ausdruck, ihr Mundwinkel zuckte verräterisch, doch sie schien sich zu entscheiden mich vor noch größerer Bloßstellung zu bewahren.

"Bis morgen Esme", antwortete sie und zwinkerte mir zu. Bevor ich mit hochrotem Kopf aus dem Wagen stieg und die Tür zuschlug, meinte ich zuletzt noch ein wissendes Grinsen gesehen zu haben.

Die frische Luft kühlte meine Wangen etwas und das Blut kehrte dahin zurück wo es hingehörte. Das Kribbeln allerdings blieb, ich meinte immer noch die Wärme ihrer Hand zu spüren, ihren festen Griff und dann diesen Blick den sie mir geschenkt hatte. Langsam war ich der festen Überzeugung, sie amüsierte sich an meinen idiotischen Reaktionen, machte sich einen Spaß daraus, diese in mir hervorzurufen. Auf der anderen Seite schien sie mich aber auch irgendwie ernst nehmen zu können. Jedenfalls hatte sie sich nicht über mich lustig gemacht, als ich aus dem Nichts irgendwelche sehr willkürlichen Fragen gestellt hatte. Irgendwo tief in meiner vereinsamten Seele war die leise Hoffnung, sie hätte aus anderen Gründen nach meiner Hand gegriffen.

Ich betrat mein Zuhause, entledigte ich mich sofort meiner nassen Jacke, zwängte mich aus den aufgeweichten Sneakern und begab mich ins Wohnzimmer, wo ich mich ohne Umschweife auf das Sofa fallen ließ. Bevor mich die Müdigkeit übermannen konnte, zwang ich mich mein Handy herauszuholen und hievte mich auf. Zögernd verweilte mein Finger für einige Minuten über der Anruftaste, bis ich mich endlich überwinden konnte sie zu wählen.

Biiip....biip... "Forensische Psychiatrie Hildburghausen, Anna Hilberts, wie kann ich ihnen helfen?", erklang die Stimme der gleichen Frau wie beim letzten Telefonat. Ich riss mich zusammen, um so souverän wie möglich zu klingen.

"Hallo, hier spricht Esme Lamar, sie haben mich vor einigen Tagen angerufen wegen meiner Mutter. Ich wollte nur Bescheid geben, ich nehme ihre Anfrage auf ein Treffen an."

Vielen lieben Dank fürs Lesen :)

𝔼𝕟𝕚𝕘𝕞𝕒Where stories live. Discover now