Kapitel 26

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Tränen kullerten unaufhaltsam über meine Wangen und ein gebrochenes Schluchzen erklang gedämpft.

"Shh", machte Julia leise an meinem Ohr. Sie hielt mich nah an sich gedrückt, während meine Schultern bebten, mich die Summe aller Emotionen übermannte, die ich für verloren geglaubt hatte.

Ich umfasste ihren Körper, krallte meine Finger leicht in den Stoff ihrer Jacke um mich noch näher an sie zu drücken. Eine Weile standen wir so da. Sie flüsterte mir tröstende Worte zu, während ihre Finger zärtlich über mein Haar strichen, bis ich mich schließlich langsam wieder beruhigte. Ich fühlte mich geborgen wie nie zuvor, als könnte ich mich endlich fallen lassen, mich klein machen. Sie war jetzt für mich da.

"Tut mir leid", nuschelte ich schließlich kaum verständlich gegen den Stoff ihrer Jacke.

Sie löste sich behutsam von mir und schüttelte leicht den Kopf, "Es gibt nichts wofür du dich entschuldigen müsstest, Esme", sie strich mir die verlorenen Strähnen hinter das Ohr, ihr Daumen wischte die Tränen auf meinen Wangen fort. Der zärtliche Blick mit dem sie betrachtete, weckte in mir das Bedürfnis ihr zu beichten, was auf meinem Herzen lag.

"Meine Mutter ist...", ich hielt inne und blickte zögernd in das warme Braun ihrer Augen.

"Du schuldest mir keine Erklärung, Liebes", sagte sie ruhig und ich nickte leicht.

"Meine Mutter hat MSBP... Münchhausen-Stellvertretersyndrom", sagte ich schließlich. Als ich sie anblickte, erkannte ich wie tief sie von meinen Worten getroffen war. Ich schaute betreten zur Seite, sie kannte es also.

"Sie hat mir jahrelang chronische Krankheiten eingeredet und mich mit Medikamenten vergiftet, um Aufmerksamkeit zu bekommen", fuhr ich fort. Auch nach den ganzen Behandlungen war es noch immer schwer es auszusprechen, vor allem vor jemandem, bei dem es mir doch so viel bedeutete, was sie von mir dachte. Julia griff nach meiner Hand, drückte diese und es half.

"Das tut mir unfassbar leid, Kleines", sagte sie nach einer Weile. Es war das erste Mal, dass wahrer Schmerz in ihrer Stimme mitschwang, mit jedem Laut, den sie ausgesprochen hatte, hatte sie ihn mir vermittelt. Und ich fühlte mich nicht bemitleidet, sondern verstanden und gehört. Ich betrachtete unsere Hände während ich die Tränen aufs Neue zurückkämpfte.

"Das war das erste Mal nach vier Jahren, dass ich sie gesehen habe."

Sie unterbrach mich nicht, ließ mir meine Zeit, während ihr Daumen sanft über meinen Handrücken fuhr, mich wissen ließ, dass sie da war.

Ich räusperte mich und zog meine Unterlippe zwischen meine Zähne, schmeckte das Salz meiner Tränen. "Können wir nachhause gehen?", fragte ich und blickte sie scheu an. Ein sanftes Lächeln breitete sich über ihre Lippen aus und sie zog mich an der Hand zur Wagentüre.

„Natürlich, meine Kleine"

Während der Fahrt konnte, ich endlich in Ruhe die Dinge reflektieren die geschehen waren. Das Treffen mit meiner Mutter, mein Abschied von ihr, mein Zusammenbruch vor Julia. Auch wenn ich mich momentan wie ein emotionales Wrack fühlte, und ein Blick in das reflektierende Autofenster mir verriet, dass ich ebenfalls wie eines aussah, so hatte ich zur gleichen Zeit auch das Gefühl, mich endlich von einer lebenslangen Ungewissheit gelöst zu haben. Ich hatte die Antworten erhalten, die ich gesucht hatte. Ein klarer Schnitt, damit etwas Neues entstehen kann.

Es war bereits dunkel, als wir das Haus erreichten. Ich bedankte mich noch einmal ausdrücklich dafür, dass sie mich gefahren hatte, woraufhin Julia einen scherzhaften Kommentar über meine „Höflichkeit" äußerte, was mich zugegebenermaßen beruhigte, denn sie behandelte mich nicht anders als zuvor.

Nachdem ich mich geduscht hatte, warf ich mich rücklings auf das Bett und während ich mit geschlossenen Augen dalag, dachte ich zum ersten Mal seit langem: Alles wird gut. Und eine unbeschreibliche Erleichterung und Hoffnung erfasste kurzzeitig meine Seele.

Ich hörte ein Geräusch auf dem Flur. Ich stand auf und trat aus dem Zimmer um rechtzeitig zu sehen wie Julia dabei war in ihr Zimmer zu gehen.

„Julia!", rief ich schnell, sie drehte sich um und sah mich verwundert an.

Mein Herz klopfte laut. Wissend, wie ungeschickt meine Worte klingen würden, ging ich entschlossen auf sie zu. Sie hob erstaunt ihre Augenbrauen, bevor ich sie zu mir zog und ungefragte unsere Lippen miteinander verschloss.

Überrascht von meinem plötzlichen Mut und der Tatsache, dass ich mich ihr so ausdrücklich auflehnte, brauchte es eine Sekunde, bis sie die Situation begriff. Dann drehte sie uns und drückte mich gegen die Tür, ihre Lippen übernahmen die Führung und sie drang bestimmend mit ihrer Zunge ein. Ihre Hände packten mich unter den Oberschenkeln, sie hob mich mühelos hoch, um die Türe zu öffnen und mich zum Bett zu tragen. Erregung sammelte sich in mir, eine fast unmöglich zu bremsende Lust ergriff mich. Ich wollte mehr, mehr, mehr.

Ohne zu fragen, ließ ich meine Hände zielstrebig unter ihr Top gleiten um dort sofort ihren festen, flachen Bauch zu ertasten. Ich strich hoch, doch blitzschnell umgriffen ihre Hände meine Handgelenke in einem unnachgiebigen Griff und hielten mich auf, bevor ich noch weiter gehen konnte.

„Nein", sagte sie fest, als sie den Kuss unverzüglich abbrach. Ich entließ enttäuscht die Luft aus meinen Lungen als ich sie anblickte. Ihre Augen sprachen für sie, so eindringlich und unerschütterlich aber ihre sanfte Berührung an meiner Wange gab mir Trost.

„Wieso?", hauchte ich verwirrt. Sie hob die Augenbraue und ich blickte zur Seite.

„Nicht heute", fuhr sie schließlich in einem viel sanfteren Tonfall fort, bevor sie sich zu mir beugte und mir einen Kuss auf die Wange hauchte. Sie legte sich neben mich, ihr Arm lag noch auf meinem Bauch. Ich verrenkte meinen Kopf etwas um sie ansehen zu können, sie hatte die Augen geschlossen. Ihr Brustkorb hob und senkte sich in ebenmäßigen Atemzügen, aber sie war wach. Ich lächelte, als ich meinen Kopf auf ihre Schulter ruhte, der vertraute Duft ihres Shampoos stieg in meine Nase...Kirschen...Kirschblüte? Ich schloss die Augen, lauschte ihrem Atem bis er mich langsam aber stetig einlullte.

Vielen Dank fürs Lesen :)

Ich wollte auch nochmal darauf aufmerksam machen, dass die betroffenen Kinder von MSBP in häufigen Fällen nach einem grausamen Leidensweg sterben, oder schwere psychische Schäden erleiden. In dieser Geschichte hat Esme wirklich unfassbares Glück, dass die Krankheit ihrer Mutter frühzeitig aufgedeckt wurde und beide so behandelt werden konnten. Unwahrscheinlich ist ebenso, dass eine Person mit Münchhausen-Stellvertretersyndrom überhaupt Einsicht zeigt und Reue verspürt. Es ist nicht meine Absicht diese Krankheit zu romantisieren, wäre dies die Realität könnte Esme sich in einem weitaus schlimmeren psychischen und physischen Zustand befinden. 

𝔼𝕟𝕚𝕘𝕞𝕒Where stories live. Discover now