Kapitel 10

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Ich wurde durch die laute Stimme meines Vaters geweckt. Er schien am Telefon zu diskutieren, vielleicht mit Carla? Eigentlich widersprach er ihr nie. Ich grummelte genervt in mein Kissen und wollte schon eben die Decke über meinen Kopf ziehen, als ich meinen Namen vernahm und kurz aufhorchte.

"...Esme...ich werde nicht....nein" -ich konnte nicht genau ausmachen, was er sagte, aber anscheinend hatte es etwas mit mir zu tun. Die Neugierde war geweckt und schon stand ich auf und trat auf den Flur.

"Hören sie mir gut zu....nein! Ich habe das Recht...es ist mir egal, ob sie bereits 18 ist, sie lebt unter meinem Dach und...", verwirrt beschloss ich einfach nach unten zu gehen und zu fragen was los war. Als ich barfüßig auf den kalten Fliesen in der Küche stand, bemerkte mich mein Vater augenblicklich.

"Was ist los?", fragte ich verwirrt.

"Nichts, geh zurück in dein Zimmer Esme", antwortete er und bemühte sich um ein beruhigendes Lächeln das mein Misstrauen nur verstärkte.

"Ja sie ist hier, aber....", sagte er dann in den Hörer wurde jedoch anscheinend brutal unterbrochen. Was auch immer die Person am anderen Ende der Leitung sagte, es ließ meinen Vater erbleichen.

"Na schön...ich reiche ihr das Telefon", er streckte es mir widerwillig entgegen und ich sah ihn verdattert an. Zögerlich nahm ich es und hielt den Hörer vorsichtig gegen mein Ohr. Ich räusperte mich.

"Hallo...?"

"Hallo Esme, ich bin froh, dass ich jetzt mit dir sprechen kann. Ich bin Anna Hilberts und rufe dich aus der forensischen Psychiatrie Hildburghausen an. Es geht um deine Mutter...hast du gerade Zeit?"

Mein Körper war wie eingefroren und ich hatte das Gefühl, als hätte man soeben eine tief verankerte, vergessene Angst wieder erweckt. Die Stille war lang und ich wusste, dass ich etwas sagen musste! Ich öffnete meinen Mund, doch kein Wort kam über meine Lippen stattdessen spürte ich wie sich ein schmerzhafter Klumpen in meinem Hals bildete.

"Esme...?", erklang erneut die Frauenstimme.

"Ja", brachte ich schließlich aus mir hervor.

"Deine Mutter hat große Fortschritte in ihrer Therapie gemacht und sie würde sich gerne mit dir treffen...die Entscheidung liegt aber alleine bei dir", sagte sie. Unzählige Gedanken rasten in meinem Kopf. Bilder, Erinnerungen und sofort spürte ich wieder diese Sehnsucht, die ich nach all den Jahren besiegt zu haben glaubte.

"Lass es dir durch den Kopf gehen, es eilt nicht. Ruf dann einfach zurück, wenn du eine Antwort hast, ja?"

"Ja"

"Wie gesagt nimm dir all die Zeit die du brauchst, also dann... auf Wiederhören!"

Ich legte auf und blickte zu meinem Vater der mich stumm und anstarrte. Er sah aus als hätte ich ihn eben hintergangen.

"Du wirst doch nicht ernsthaft darüber nachdenken müssen. Die Antwort ist Nein", seine Stirn lag in Falten und spiegelte seine Verständnislosigkeit wider. Wortlos wandte ich mich um und ging in mein Zimmer wo ich mich wie in Trance auf den Rand meines Bettes setzte. Ich wusste nicht, was ich fühlen sollte. Wut oder Trauer. Freude? Ich schloss die Augen versuchte eine rationale Entscheidung zu fällen, doch jedes Mal tauchte ihr Gesicht vor mir auf. Ein strahlendes Lächeln, so breit und ansteckend, dass es sofort jeglichen Kummer zu lindern schien. Zwei Arme die einen immer empfingen, wenn man als Kind hinfiel und sich verletzte. Der Geruch nach frischer Wäsche und Äpfeln. Ihre tröstenden Worte, "Alles wird gut". Dabei wurden die Dinge erst besser, nachdem sie weg war.

***

"Wir müssen jetzt los", dort stand mein Vater, mit dem Schlüsselbund bereits in der Hand, während er noch in der Spiegelung des eingerahmten Bildes neben der Türe, seine Haare zu bändigen versuchte. Ich zog meine Schuhe an und verzog angesichts der Unbequemlichkeit, das Gesicht. Da ich mich in meinem schwarzen Kleid doch recht unbehaglich fühlte, zog ich noch einen Mantel an und eilte dann mit meinem Vater hinterher zum Wagen. Die Luft war recht kühl und eine Gänsehaut legte sich auf meine bloßen Beine. Unnachgiebig lief er mir voraus und wandte kein Wort an mich während der gesamten Fahrt. Es störte mich jedoch nicht im Geringsten. Schon vor der Einfahrt zur Schule wurde mir das Ausmaß der Veranstaltung vor Augen geführt. Der Parkplatz war überfüllt und vor dem Gebäude standen bereits kleine Gruppen an fremden Leuten.

Das Programm fand im Beethovensaal statt. Der Bürgermeister hielt eine Rede, es spielte das Schulorchester und nach spätestens dem 6. Programmpunkt wo ein Lehrer über die Entstehung der Schule sprach, war ich zu Tode gelangweilt. Ich stand am Rande des Saales, da alle Plätze belegt waren und meine Füße in den Absatzschuhen, begannen bereits zu schmerzen. Wohin man nur blickte, saßen oder standen schicke Leute in Anzügen und Kleidern, es machte mich nervös. Schließlich trat mein Vater auf die Bühne und beim Klang des Jubels und Applauses verdrehte ich die Augen. Er begann seine Rede und sagte irgendetwas wie: "wir hätten es nie ohne x und y bis hierhin geschaffte... vielen Dank an x und y!" und bla, bla, bla...ich war geradezu erleichtert als es fertig war und die Leute aufstanden, um sich zum Bankett zu begeben. Glücklicherweise fand ich Kenia dort, sie lud sich einen Berg an Häppchen auf ihren Teller. Ich stellte erleichtert fest, dass sie meine Abscheu vor großen Menschenmassen teilte und wir verdrückten uns zusammen in die hintere Ecke des Raumes.

"Ich hasse das hier", sagte sie.

"Ich auch", ich betrachtete, wie mein Vater sich lachend mit einer etwas älteren Dame unterhielt, die den dunklen Wein in ihrem Glas schwenkte.

"Das einzig Gute ist das Essen", stellte Kenia fest und legte den leeren Teller auf einer der Stehtische ab.

"Oh mein Gott, schau mal die Lorenz", sie deutete auf die linke Seite des Raumes und ich blickte angestrengt in die Menge. In einer kleinen Gruppe aus Leuten, stand sie. Sie hatte ein cremefarbenes, langes Kleid an. Der Satin umspielte mühelos ihre sanduhrförmige Taille und floss hinab an ihren langen Beinen. Ein Schlitz an der Seite erlaubte einen Blick auf ihre ebenmäßige Haut ohne dabei billig zu wirken. Wow. Sie sah so anmutig, elegant aus, dass es mich direkt einschüchterte.

"Sie sieht heiß aus", stellte Kenia unverblümt fest. Ich blickte sie mit erhobenen Augenbrauen.

"Was? Ist doch wahr!", sie zuckte mit den Schultern und ich musste lachen.

Ich blickte zurück zu unserer Lehrerin. Irgendein Typ zu ihrer Seite sagte etwas zu ihr und sie lachte, ein triumphierendes Grinsen legte sich auf das Gesicht des Mannes und ich verzog missbilligend die Miene. Frau Lorenz sagte etwas in die Runde und gab jemanden die Hand bevor sie sich abwandte, durch die Menge lief und auf jemanden zusteuerte. Schon bald wurde mir bewusst, dass es sich bei diesem Jemand um meinen Vater handelte. Skeptisch und neugierig zugleich beobachtete ich, wie sie miteinander redeten, bis sie sich plötzlich in meine Richtung drehten. Ihre Blicke trafen auf meinen und ich wandte mich schnell dem Glas in meiner Hand zu. Frau Lorenz' Blick brannte auf mir wie Feuer, doch ich wagte nicht aufzublicken. Nach einigen Minuten stupste mich Kenia mit dem Ellenbogen an.

"Ich glaub, dein Vater will was von dir", sagte sie.

Tatsächlich. Mein Vater gab mir ein Handzeichen, dass ich zu ihm gehen sollte und ich stöhnte genervt auf. "Viel Spaß", wünschte mir Kenia schadenfroh. "Danke", ich stieß mich von der Wand ab und versuchte nicht zu stolpern, als ich mich mit jedem Schritt näher zu meinem Vater und meine Lehrerin bewegte. Meine Beine fühlten sich an wie Wackelpudding und ich hatte auf einem Mal irrationale Angst hinzufallen. Endlich war ich da.

"Guten Abend, Esme", erklang ihre wohltönende, ruhige Stimme.

"Hallo Frau Lorenz", ich schaute nervös von ihr zu meinem Vater.

"Esme, ich habe gerade mit Julia über das kommende Seminar geredet und da ich ja 10 Tage nicht hier sein werde, habe ich sie gebeten ....dich im Auge zu behalten während meiner Abwesenheit", er schenkte Frau Lorenz ein breites Lächeln deren Augen jedoch unbewegt mich fixiert hatten. Es dauerte eine Weile bis die Worte meines Vaters endgültige in meinen Verstand eingewandert waren und ich schockiert den Blick in seine Augen riss.

"Was?", fragte ich alarmiert.

"Sie war so freundlich und hat zugestimmt, also wirst du für ein paar Tage bei ihr wohnen."

Tausende Gedanken rasten durch meinen Kopf. Sie war meine Lehrerin! Ich konnte doch nicht bei Frau Lorenz einziehen! Langsam stieg Panik in mir auf.

"A...aber ich bleibe doch bei Carla!", sagte ich zu meinem Vater in der Hoffnung ein Missverständnis würde vorliegen. Er räusperte sich, warf einen flüchtigen Blick zu Frau Lorenz, die seelenruhig die Situation beobachtete und sagte dann mit etwas gesenkter Stimme, "Carla hat leider keine Zeit, ihr ist etwas dazwischen gekommen...es sind nur ein paar Tage Esme...bitte", er lächelte mich hoffnungsvoll an. Carla hat keine Zeit - das war das Absurdeste, was ich bisher gehört hatte!

"Julia -Frau Lorenz ist ja noch ganz jung! Ich bin mir sicher, dass sie sich gut um dich kümmern wird", meinte er. Vor Wut und Peinlichkeit röteten sich meine Wangen, er sprach über mich, als wäre ich ein Kind. Er behandelte mich, wie ein Kleinkind!

"Das werde ich", erklang ihre Stimme. Leise aber so, dass ich es noch hörte, fassungslos riss ich meinen Blick in ihre dunklen Augen. Meine Lehrerin stand, mit verschränkten Armen da und belächelte mich fast schon schadenfroh.

"Aber...", fing ich erneut an zu protestieren.

"Eine Woche nur, Esme", schnitt mein Vater mich ab und sah mich mit einem Blick an, der mir verständigte, dass es keinen Sinn hatte, sich weiter gegen seinen Willen aufzulehnen. Ich zögerte, dann überwand ich mich zu einem halbherzigen, resignierten Nicken. "Du solltest dich bei Frau Lorenz bedanken, findest du nicht?". Meine Kiefermuskeln zuckten, als ich mich an meine Lehrerin wandte. Ein undefinierbarer Ausdruck huschte kurz über ihre feinen Züge, dann hob sie abwartend die Augenbraue.

"Danke", presste ich hervor. Ein kleines Lächeln formte sich auf ihren rot bemalten Lippen, sie erwiderte jedoch nichts.

Plötzlich wurde das Licht gedämmt. "Oh, ich muss nach vorne, entschuldigt mich", mein Vater schob sich durch die Menge, seine leise vor sich hin gemurmelten Entschuldigen wurden schon bald verschluckt. Ich fühlte mich unwohl, wie eigentlich immer, und blickte wieder automatisch zu meiner Lehrerin.

"Keine Sorge Esme, ich werde dafür sorgen dir deinen Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen", sie lächelte zuckersüß und langsam hinterfragte ich ernsthaft meine psychische Gesundheit, bildete ich es mir nur ein, oder war ihr Tonfall eben zweideutig? Durfte man denn überhaupt so mit seiner Schülerin umgehen? War das Wohnen mit einer Lehrkraft eigentlich legal? Aber wenn nicht, wie sollte ich schon über so etwas Bescheid wissen. Auf einem Mal fühlte ich mich, als hätte ich in meinem Leben nichts mehr zu sagen, wie ein kleines Blatt im Strom eines Baches, das gegen seinen Willen mitgerissen wurde und dabei nichts tun konnte, um sich seinem Schicksal zu entwenden. Wow du solltest ein Buch darüber schreiben Esme.

"Ich möchte Ihnen natürlich keine Umstände bereiten, ich störe bestimmt nur bei Ihrer Arbeit", sprach ich Frau Lorenz an und hoffte, dass sie mir etwas entgegenkam, schließlich hatte sie bestimmt auch keine Lust auf eine 18-jährige Schülerin, die bei ihr Zuhause herumlungerte! Wahrscheinlich hatte sie aus Respekt und Höflichkeit die Bitte meines Vaters erfüllt, anders konnte ich es mir nicht erklären.

"Im Gegenteil, ich erwarte eine gewisse Gegenleistung...", an diesem Punkt wusste ich, dass sie diese Situation genoss. Das war doch nicht normal! Ich öffnete meinen Mund, um etwas zu sagen, aber schloss ihn wieder als Frau Lorenz herausfordernd ihre Braue hob. Sie lächelte zufrieden als sie sah, wie ich aufgab und beugte sich vor um mir etwas zuzuraunen. Sie kam mir sogar so nah, dass ihr süchtig machender Duft mir die Sinne vernebeln konnte.

"Und mir fällt so einiges ein, wie du dich bei mir bedanken könntest", ihr Atem schlug gegen meine Wange, sie grinste, richtete sich wieder auf und zwinkerte mir verschwörerisch zu. Für einen kurzen Moment schien sie noch den Effekt den ihre Worte auf mich hatten auszuleben, dann wandte sie sich ab und entfernte sich von mir. Mein entgeisterter Blick folgte ihrer Gestalt, bis sie aus meiner Sicht verschwand.

𝔼𝕟𝕚𝕘𝕞𝕒Where stories live. Discover now