Kapitel 9

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"Die Beiden könnten uns echt mal eine Pause gönnen", stöhnte Kenia als wir nach dem Sportunterricht in die Umkleide zurückkehrten. Ich konnte ihr nur zustimmen, meine Lunge war teilweise wirklich an ihre Grenzen gestoßen, dennoch war ich recht zufrieden mit meinen Leistungen. Ich band meine Schnürsenkel und blickte zu Kenia, die gerade dabei war sich umzuziehen. Sie zog ihre Jogginghose aus und mein Blick blieb an ihren Oberschenkeln hängen. Narben. Viele, viele horizontale Narben, die sich aneinander reihten. Es war nicht das erste Mal, dass ich so einen Anblick sah. Viele Jugendliche in der Klinik hatten sich ebenfalls selbst verletzt.

"Ich hoffe das triggert dich nicht, wenn du willst, kann ich mich umdrehen", Kenia hatte meinen Blick bemerkt und lächelte entschuldigend.

"Nein...! Alles gut! Es macht mir nichts aus", brachte ich überrumpelt heraus.

Kenia entließ einen erleichterten Seufzer. "Dann ist ja gut". Sie hielt inne und strich mit ihren Fingern zärtlich über die vernarbte Haut. "Weißt du, ich hab das hinter mir gelassen... aber die Narben wird man wohl mein ganzes Leben lang sehen können". Ich hatte sie bisher noch nie so ernst und ruhig erlebt. Ich schluckte, ich wusste nicht, was ich sagen sollte, aber Kenia schien gerade sowieso in ihrer eigenen Welt zu sein.

"Es bin froh für dich, dass du da herausgefunden hast", sagte ich mit etwas kratziger Stimme. Kenia blickte auf und schenkte mir ein breites Lächeln, "Ich auch!". Jetzt, da ich Kenia besser kannte, machten mich die Worte meines Vaters um ein zehnfaches wütender. Sie war einer der ehrlichsten und freundlichsten Menschen die ich bisher kennengelernt hatte. Sie brachte mich zum Lachen und irgendwie fühlte ich mich mit ihr verbunden. Vielleicht hatten wir beide keine leichte Kindheit gehabt.

Ich verbrachte die Pause mit ihr, da wir um drei wieder in der Schule sein mussten, um für das morgige Fest zu schmücken und es sich nicht lohnte nach Hause zu gehen. Wir redeten, oder besser gesagt, Kenia redete und ich hörte ihr zu. Ich hatte noch nie in meinem Leben jemanden wie Kenia getroffen, sie erinnerte mich an Zuckerwatte - süß und luftig, so ziemlich der Gegenpol zu meiner Persönlichkeit. Sie war auffällig, mit ihren bunten Klamotten und ihren glitzernden Spangen und Ohrringen. Wenn ich neben ihr stand, kam ich mir beinahe vor wie ein trübseliges schwarz-weiß Bild.

Wir betraten pünktlich die Eingangshalle und versammelten uns mit dem Rest der Klasse vor Frau Lorenz. Sie erklärte noch einmal die genauen Abläufe des morgigen Tages, wies uns darauf hin uns anständig zu kleiden, da die Presse da sein würde und dann gab sie uns Anweisungen für das Dekorieren des Eingangs. Ich griff mir also einige dieser sternähnlichen Papierbasteleien die wir aufhängen sollten und stieg auf die Treppe, um sie dort am Geländer zu befestigen. Es stellte sich heraus, dass die Aufgabe um einiges schwerer war als gedacht, da die Sterne außen befestigt werden mussten. Frustriert trat ich einen Schritt zurück, um mir eine andere Strategie auszudenken und sah im Augenwinkel, wie Frau Lorenz geradewegs auf mich zukam. In Eile, versuchte ich das Ding dranzuhängen, doch es wollte nicht funktionieren!

"Braucht du Hilfe, Liebes?", der neckende Unterton ihrer Stimme entging mir keineswegs und mir schoss zum x. Mal das Blut in meinen Kopf.

"Nein", sagte ich und klang dabei etwas schroffer als beabsichtigt.

"Wenn du meinst", sagte sie. Konzentriert versuchte ich es weiter hin. Das Problem war, dass der Faden jedes Mal wieder wegrutschte, bevor ich ihn mit dem anderen Ende verknoten konnte und mein Arm nicht hinreichte, um ihn festzuhalten. Ich seufzte, richtete mich auf und rieb meinen schmerzenden Rücken.

"Ich frage dich ein letztes Mal Esme, brauchst du meine Hilfe?"

Ich fuhr zusammen. Sie war immer noch da? Mir wurde schmerzlich bewusst, dass sie all die Zeit hinter mir gestanden haben musste, während ich über das Geländer gebeugt war. Ich wog meine Optionen ab.

"Ja...bitte", sagte ich schließlich durch zusammengepresste Zähne. Frau Lorenz nahm den Papierstern aus meiner Hand und trat an mir vorbei. Sie beugte sich über die Brüstung und knotete den Faden mit Leichtigkeit fest. Als sie sich wieder aufrichtete, hätte ich ihr am liebsten dieses selbstgefällige Grinsen aus dem Gesicht gewischt. Ich unterdrückte es meine Augen zu verdrehen und bedankte mich knapp.

"Keine Ursache, wir wollen ja nicht, dass du noch über das Geländer fällst", meinte sie.

Ich riss meinen Blick in ihre braunen Augen, die mich irgendwie provozierend anfunkelten. Offensichtlich versuchte sie mich aus der Fassung zu bringen, aber ich ließ mich nicht auf ihr Spiel ein, gab nur ein gleichgültiges "Mhm" von mir und wandte mich stumm ab um weitere Aufgaben anzugehen. Es dauerte etwa 45 Minuten, bis wir unsere Arbeit erledigt hatten. Ich staunte nicht schlecht, als ich das Schlussbild betrachtete. Girlanden hingen quer durch den Raum, von der Decke hingen in Lichter, umhüllt von kunstvoll gefaltetem Papier und an der Wand hing ein riesiges Banner mit dem Namen der Schule und einer 50 dahinter.

Ich lief noch das Stück zu den Fahrradständern mit Kenia, verabschiedete mich dort von ihr und fuhr selber mit dem Bus nachhause. Gerade als ich ankam, war Carla dabei das Haus zu verlassen. Als sie mich sah, zeigte sie ein so strahlendes Lächeln, dass es mir schwer fiel zu glauben, dass es echt war. "Hallo, Esme!", begrüßte sie mich. Carla war etwas jünger als mein Vater. Sie hatte blonde, lange Haare und blaue Augen die stets freundlich blickten. Trotzdem, oder vielleicht aus diesem Grund fühlte ich mich manchmal bemitleidet von ihr.

"Hallo", grüßte ich sie freundlich.

Ich ging an ihr vorbei und schloss die Tür auf, als sie mich doch noch einmal ansprach. "Ähm...Esme?", ich drehte mich fragend zu ihr um. Sie spielte mit dem ausgefransten Ende ihres violetten Schales und schien nach den richtigen Worten zu suchen.

"Dein Vater macht gerade eine sehr stressige Zeit durch... ich habe mich gefragt, ob du vielleicht...ein wenig nachsichtiger mit ihm umgehen könntest. Er bemüht sich, Esme", sagte sie dann schließlich zögerlich, fast ängstlich. Was dachte sie, würde ich tun? Mich auf sie stürzen?

"Ich mache auch eine stressige Zeit durch", sagte ich leise. Ich war müde, mich dem Willen kurzsichtiger Menschen zu beugen, die sich ihr Leben lang bemitleideten für etwas, an dem sie selber Schuld trugen. Carlas Lächeln erlosch und wurde von einem verständnislosen Ausdruck ersetzt. "Verstehe", sagte sie und ich wusste, dass sie rein nichts verstanden hatte. Sie wandte sich ab und ging ohne ein weiteres Wort zu sagen. Ich seufzte frustriert. Und mit ihr und ihrem 7-jährigen Sohn, für dessen Verhalten mir kein passenderes Adjektiv einfiel als "nervig", musste ich zehn Tage lang wohnen. Ein Traum.


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