Kapitel 35

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"Warte bitte einen Moment, Esme"

Ich ließ den Griff der Wagentüre los und drehte den Kopf um meinen Vater fragend anzuschauen. Der markante Muskel seines Kiefers zuckte merklich und sofort beschlich mich ein ungutes Gefühl. Seitdem Julia und ich gestern fast gesehen wurde, erreichte meine Paranoia allmählich ihren Höhepunkt.

"Was?", ich hielt meine Stimme so neutral und unschuldig wie möglich. Mein Vater schien sich jedoch genauso unwohl in seiner Haut zu fühlen, kratzte sich am Kinn, bevor es sich räusperte."Also...", er blickte mich nicht an, aber seine Stimme klang bemüht gleichgültig,"...wie war das Treffen mit deiner Mutter?"

Ein Stein fiel mir vom Herzen, doch ich ließ mir meine Erleichterung nicht anmerken, "Ähm...gut?". Eigentlich hätte dieses Treffen unter keinen Umständen"gut" laufen können, aber was sollte ich auch sagen? Er war sichtlich unzufrieden mit meiner Antwort und presste die Lippen leicht zusammen, während er die Stirn Kraus zog.

"Ach ja?", hakte er skeptisch nach. "Es scheint ihr gutzugehen", erwiderte ich Schulter zuckend. Plötzlich war jede Unsicherheit aus seinen Zügen verflogen und er warf mir einen erbosten Blick zu. "Danach habe ich nicht gefragt", fuhr er mich grob an. Ich seufzte innerlich, diesen Verteidigungsmechanismus seinerseits, wenn auch nur die Idee aufkam, dass er sich um meine Mutter scheren sollte, war mir schon längst bekannt. 

"Jedenfalls...", er räusperte sich erneut,"...ich denke, du hast aus deinem Fehler gelernt" und mit diesen überheblichen Worten, stieg er aus dem Auto. Ich schüttelte nur sprachlos den Kopf und folgte ihm nach draußen, wo ich ihm missmutig hinterher trottete. Ach, wie hatte ich ihn doch vermisst...

Doch mein Ärger vepuffte geradewegs in der Luft, als mir die Rücklichter eines vertrauten, silbernen Mercedes entgegenblitzten. Julia stieg aus dem Wagen und schritt nun wie wir zügig gen Haupteingang. Ich folgte ihrer Gestalt mit meinen Augen, die Art wie ihr Mantel mit jedem Schritt, den sie tat um ihre Beine schlug, hatte etwas unheimlich Einschüchterndes. Bald schon liefen unsere Wege zusammen.

"Salut", rief mein Vater heiter, als hätte er sein Gemüt in den paar Sekunden völlig glatt gebügelt. Julia lächelte gelassen, "Bonjour Philipe...", ihr Blick glitt an ihm vorbei und traf auf meinem. Ein kleiner Schauer lief mir über den Rücken, als sich das zuvor schlichte Lächeln zu einem koketten Grinsen verwandelte, "...Mademoiselle", begrüßte sie mich. Ich zeigte ihr ein verlegenes Grinsen. Mein Vater rannte wenige Schritte vor, die standardmäßige, braune Lehrertasche aus Leder gegen seine Beine schlenkernd.

"N'oublie pas la conférence, reportée à 15 heures", rief er meiner Lehrerin hektisch über die Schulter zu. "Bien sûr", antwortete diese heiter und schon waren wir zurückgefallen, während mein Vater die wenigen Treppen zur Glastüre hoch trabte und dann im Inneren des Gebäudes verschwand.

"Und...?", ein schelmischer Unterton schlich sich in ihre Stimme ein, als sie sich mir zuwandte, "...hast du schon Heimweh?". Ein helles Lachen kam über meine Lippen, so hell, dass es sogar mich selbst überraschte.

"Ich weine mich jede Nacht in den Schlaf", spielte ich mit, während ich sie heimlich natürlich vermisste. 

Sie wirkte amüsiert, "Das dachte ich mir! Aber wenn du das nächste Mal vereinsamen solltest, weißt du ja wo du mich findest....", sie zwinkerte mir verheißungsvoll zu und ich schmunzelte, während mich die Röte auf den Wangen eindeutig verriet. Ich hatte wirklich schon darüber nachgedacht ihr einen Besuch abzustatten, aber bei dem Gedanken ich könnte zu anhänglich wirken, hatte ich mich entschieden vorerst zu warten. Und nun hatte sie mich indirekt eingeladen....ein warmes Glücksgefühl kribbelte in meinem Bauch.

"Esme!", ich zuckte merklich zusammen und drehte meinen Kopf in die Richtung, aus der die Stimme erklungen war. Jonah? Gekleidet in einem schlichten, schwarzen Hoodie, die Kabel seiner weißen Kopfhörer wie immer lässig aus dem Kragen baumelnd. Jetzt hüpften sie auf und ab, während er in meine Richtung joggte. Immer zum perfekten Zeitpunkt.

"Hi", sagte ich perplex. Er verlangsamte sein Tempo, bis er vor mir zum Stillstand kam, einen verunsicherten Blick zu Frau Lorenz werfend, stopfte er seine Hände in die vordere Tasche seines Pullovers, "Hey", begrüßte er mich leicht außer Atem. Ich schob den Gedanken, wie seltsam die entstandene Situation war, beiseite und sah ihn stattdessen fragend an.

"Ähm...", er zögerte und ich wunderte mich über seine plötzliche Schüchternheit, die sich nur äußerst selten zeigte. Doch er schien sich einen Ruck zu geben und seine Statur richtete sich etwas auf, "Können wir kurz reden?", fragte er ernst.

"Klar", antwortete ich plump und blickte dann zögernd zu Julia. Sie zog ihre Augenbraue hoch, "Sei pünktlich zum Unterricht", sie drehte auf dem Absatz um und ging. Oh Mann... sehr lehrerinnenhaft, Frau Lorenz. Ich riss meinen Blick von der Kehrseite meiner Lehrerin los und lenkte ihn stattdessen auf Jonah, der mich irgendwie irritiert beobachtete.

"Also?", ich klang ungeduldiger als beabsichtigt, doch es schien ihm nichts auszumachen. Er strich sich die schwarzen Locken aus der Stirn, "Ich finde es nicht gut, wie wir es einfach beendet haben", sprach er dann offen aus. "Wir haben die ganze Klinikscheiße durchgestanden, Esme und du willst das, was wir hatten alles hinschmeißen, weil du nicht mit mir über etwas reden kannst?", er leckte sich frustriert die Lippen. "Ich meine, es ist in Ordnung, wenn du nicht über alles reden willst. Ich verstehe das und so....".

Ich schluckte bei dem bittenden Unterton in seiner Stimme und der Verzweiflung die sich in dem tiefen blau seiner Augen widerspiegelte."Das ist es nicht...", warf ich frustriert ein. Er hielt inne und sah mich verständnislos an. "Bist du fremdgega...", "Nein!", unterbrach ich ihn etwas zu harsch. Er wirkte erleichtert, wenn die Verwirrung auch bald überzukochen schien.

"Was ist dann das Problem?", seine Stimme war trotz seiner rasenden Emotionen noch Recht gefasst und dafür war ich ihm dankbar. Eine Szene vor meiner neuen Schule zu machen, gehörte zu den letzten Sachen die ich wollte. Ich sah Jonah an und mit einem Mal spürte ich wieder das Gewissen auf mir lasten. "Ich habe mich in jemand anderen verliebt", gestand ich schließlich matt. Er hatte die Wahrheit verdient. Die Fassungslosigkeit weilte nur kurz auf seinen Zügen, dann sah er mich forschend an.

"Wer?"

"Spielt das eine Rolle?"

Er schien nachzudenken, "Die Frau von vorhin... diese Frau Lorenz?". Blaue Augen bohrten sich geradewegs in meine. "Nein", entkam es mir etwas zu hastig, meine Hand verkrampfte sich in meiner Jackentasche, während ich versuchte mich zusammenzureißen. Trotzdem wurde sein Blick zweifelnd. Woher nahm er diesen Verdacht? Meine Gedanken begannen zu rasen, mögliche Worstcase-Szenarios spielten vor meinem inneren Auge ab. "Wolltest du deshalb nicht bei mir für die 10 Tage bleiben?", in seinem Kopf schienen sich Puzzleteile zu fügen und mein Inneres zog sich ängstlich zusammen. "Es ist nicht sie!", sagte ich also energisch und hielt seinem Blick tapfer stand. Schließlich stieß er frustriert die Luft aus, "Ist auch egal", meinte er dann eher zu sich selbst. "Egal...viel Glück", die Bitterkeit in seiner Stimme war unüberhörbar. Er drehte sich um und ging ohne einem weiteren Wort. Ich biss mir schuldig auf die Unterlippe, während sich in meinem Bauch ein Knoten formte, eine üble Vorahnung.

Danke fürs Lesen! Freue mich über jegliches Feedback ;)

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