Kapitel 36

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"Aria!", rief Hope plötzlich nach mir, weswegen ich leicht erschrocken in ihre Richtung blickte.

"Ja?", fragte ich schließlich nach.

"Wo bist du nur mit deinen Gedanken wieder hin?", wollte sie Kopf schüttelnd von mir wissen.

Bei dieser Frage von ihr nahm mich das Schweigen automatisch in Gefangenschaft, denn zurzeit blieben meine Gedanken sehr häufig an einer bestimmten Sache hängen, wo sie eigentlich nicht mehr sein sollten. Ich konnte einfach nicht aufhören darüber nachzudenken, was wohl jeden Moment passieren könnte. Jedesmal, wenn ich einem Jungen begegnete, der annähernd eine Ähnlichkeit mit Ace besaß, blieb beinahe mein Herz vor Schock stehen und die Panik übernahm mich regelrecht.

Seitdem ich nämlich wusste, dass er aus dem Gefängnis draußen war, lief das so mit mir ab. Eine Begegnung mit ihm wäre sehr merkwürdig. Diese Vorstellung, das er direkt vor mir stand, machte mir auf irgendeiner Weise Angst, obwohl mir ebenso bewusst war, dass er nichts machen würde, doch trotzdem verspürte ich pure Unsicherheit in seiner Nähe. Damit wollte ich nicht mehr leben, aber ich hatte keinerlei Ahnung, wie das aufhören sollte.

So langsam hatte ich sogar die Befürchtung, das ich irgendwann wirklich verrückt werden würde, denn es war nicht normal, wie sehr ich mir den Kopf darüber zerbrach. Ich entwickelte wortwörtlich Paranoia und ich zweifelte daran, das sich meine Lage verbessern könnte, denn mir ging es nicht gut.

"Aria!", drang die Stimme meiner besten Freundin erneut in meinen Kopf, worauf ich den Blick hob, nur um in ihr leicht wütendes Gesicht zu schauen.

"Tut mir Leid", murmelte ich.

Für einige Sekunden verharrte sie nur nachdenklich an derselben Position und beobachtete mich stumm. Schließlich schnaubte sie ein wenig erschöpft und ging sich einmal durch ihre blonden Haare, die lange nicht mehr eine bunte Farbe abbekommen hatten. Anschließend setzte sie sich direkt vor mich und nahm meine Hände in ihre, dabei rang sie sich ein kleines Lächeln auf ihre rosa Lippen, die schimmerten wegen ihrem Lippenstift.

Die Blondine wusste, was mich beschäftigte und aus diesem Grund hatte sie oft versucht mich abzulenken, aber es funktionierte nicht. Diese Tatsache war ihr ebenso klar, wodurch sie dadurch verzweifelter wurde, denn sie wollte mir helfen.

"Du musst aufhören, daran zu denken", sprach sie.

"Es geht nicht", gab ich zu.

"Seit Monaten ist nichts mehr passiert. Es ist vorbei", versuchte sie mich glauben zu lassen.

"Ist es nicht und das weißt du auch", sagte ich, weswegen sie diesmal nichts erwiderte.

"Wo ist eigentlich Jayden?", änderte ich somit das Thema und stand vom Stuhl wieder auf.

"Er kommt gleich", antwortete sie.

"Bist du dir eigentlich sicher, das er sich darüber freuen wird?", fragte sie nun und schmückte weiterhin zögerlich das Haus von den Black's weiter, die momentan nicht anwesend waren.

"Ihm wird es überhaupt nicht gefallen", war ich ehrlich, worauf sie abrupt aufhörte.

"Wie jetzt? Warum machen wir das dann?", konnte sie es nicht nachvollziehen, doch ich lächelte nur.

"Es ist sein erster Geburtstag, den wir zusammen verbringen werden und ich möchte ihn gerne überraschen. Außerdem ist es keine richtige Party, sondern nur unter uns", erklärte ich kurz gefasst.

"Wo ist überhaupt Liam?", erkundigte sie sich.

"Bei seiner Schwester", antwortete ich.

"Ich habe gedacht, dass er sich mit seinem Vater nicht versteht?", war sie jetzt verwundert.

"Daran hat sich auch nichts geändert. Er ist nur gegangen, weil er nicht da ist. Außerdem ist Levin auch mit ihm, also kann nichts passieren, falls Mr Black doch kommen sollte. Hoffe ich zumindest", flüsterte ich den letzten Satz eher zu mir selbst.

"Glaubst du, dass sie sich jemals vertragen werden?", stellte sie eine Frage darüber.

"Nein", war ich mir sehr sicher und musste nicht einmal überlegen, da es offensichtlich war.

"Wenigstens hat er Geschwister. Ich habe niemanden", murmelte sie leise vor sich hin.

"Hey!", beschwerte ich mich und bewarf sie mit eines der weißen Kissen, die auf der Couch lagen.

"Du hast doch mich!", erinnerte ich sie.

"Stimmt, wie konnte ich dich vergessen", lachte sie jetzt und legte den Kissen auf ihren Platz zurück.

Hope wohnte schon lange nicht mehr bei uns und war zurück nach Hause gegangen. Ihr Vater musste nämlich mit eigenen Augen sehen, wie seine Frau ihn mit seinem leiblichen Bruder betrog. Als Mr Davies in einer Nacht hier vollkommen aufgewühlt auftauchte und mit seiner Tochter darüber reden wollte, ließ sie es zu. Ich war dabei gewesen, da mich meine beste Freundin, als Unterstützung brauchte. Es war mir aber etwas unangenehm mitten in einem Familienproblem dabei zu sein.

Mr Davies tat es unfassbar Leid, das er Hope zuerst nicht geglaubt hatte. Diese plötzliche Nachricht, das seine Frau ihn wohl mit seinem eigenen Bruder betrog, kam ihm einfach nicht glaubhaft rüber. Er wollte es nicht wahrhaben, aber innerlich wusste er auch, dass seine Tochter die Wahrheit sagte, aber er erklärte ihr, dass er es selbst sehen musste.

Er nahm sich schließlich vor sie zu verfolgen und am Ende erwischte er die beiden zusammen.

Ab da wurde ihm somit bewusst, was für einen Fehler er eigentlich begangen hatten, indem er Hope verletzt hatte. Mit voller Reue entschuldigte er sich bei ihr. Natürlich hatte sie ihm verziehen, denn Vater und Tochter brauchten sich nun gegenseitig.

"Redest du noch immer nicht mit ihr?", wurde ich wieder ernster und beobachtete sie traurig.

"Sie versucht es, aber ich möchte nicht", erklärte sie, dabei versteckte sie ihre Augen vor mir.

"Sie ist deine Mutter", sagte ich, worauf sie an derselben Stelle stehen blieb und kurz schwieg.

"Es ist nicht so einfach", begann sie.

"Würdest du es nicht ein wenig komisch finden, wenn sich deine Eltern scheiden lassen und deine Mutter mit dem Bruder deines Vaters, also mit deinem Onkel zusammen kommt?", fragte sie mich, jedoch konnte ich ihr darauf keine Antwort geben.

"Wie geht dein Vater damit um?", wollte ich stattdessen von ihr wissen.

"Er tut so, als ob alles in Ordnung wäre und versucht zu verbergen wie sehr er die beiden hasst", erzählte sie mir und man sah ihr an, wie anstrengend die Situation für sie war.

Da ich nicht mehr so Recht wusste, was ich auf ihre Worte erwidern könnte, blieb ich lieber still, denn im selben Augenblick bemerkte ich etwas.

Mir fiel gerade auf, wie sehr sich das Leben von uns allen verändert hatte. Wir waren nicht mehr auf der Highschool und gingen aufs College. Ich hatte mich dazu entschieden Journalismus zu studieren, denn ich fühlte mich dazu hingezogen und fand, dass es irgendwie am besten zu mir passte.

Hier in der Columbia University befanden sich Jack, Hope, Hunter, Jayden und ich zusammen. Der Lockenkopf hatte beschlossen Medizin zu studieren, was er schon immer wollte. Außerdem tat es Fleur ebenso, nur das ihr Studium in Frankreich war und sie anscheinend eine Pause machte, aber ich hatte keinen Plan, warum. Meine verrückte beste Freundin traf die Entscheidung für das Modemanagement, Hunter interessierte sich für Psychologie und ihr Freund, also Jayden für Jura.

Liam wurde auf eine richtig gute Kunstschule angenommen, wofür ich mich extrem für ihn freute.

Kyle war leider nicht mehr unter uns, da er das College in London gewählt hatte und derselbe Fall lag bei Daniel, nur das dieser in New Haven war.

Das alles klang so normal und äußerst perfekt, aber das war es nicht, denn die grauen Wolken schwebten weiterhin über uns und würden nicht so einfach verschwinden. Vielleicht glaubten einige unter uns tatsächlich, dass alles vorbei war und der Alptraum geendet hatte. Ich war mir aber sicher, das dies erst der Anfang dieser Geschichte war.

Der VerstandWhere stories live. Discover now