Kapitel 29

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Es waren Stunden vergangen und ich hatte noch immer kein Auge zu bekommen. Ich hatte einfach nicht das Bedürfnis zu schlafen. Vielleicht lag es daran, dass ich nicht einschlafen konnte oder vielleicht lag es daran, dass ich Angst hatte. Es hatte sozusagen die Kontrolle über mich genommen, sodass ich machtlos war, um dagegen etwas zutun.

Ich fühlte mich viel schwächer als sonst, denn ich war verzweifelt wie noch nie.

Gedankenverloren wanderten meine Augen zum Himmel und ich beobachtete die einzelnen Sterne. Sie waren unglaublich schön, sodass es mich jedes Mal zum Staunen brachte. Leicht schüttelte ich meinen Kopf über meine Gedanken und ein kleines Lächeln zierte meine Lippen, denn das war gerade unwichtig, jedoch lenkte es mich trotzdem ab.

"Du kannst auch nicht schlafen", ertönte plötzlich eine tiefe männliche Stimme, die jedoch sehr angenehm für meine Ohren war.

Zu dieser Feststellung erwiderte ich nichts und blickte weiterhin stur aus dem Fenster. Ich hatte nicht die Kraft um zu reden oder besser gesagt zu streiten, daher blieb ich lieber still. Ich lehnte sogar den Kopf gegen die Wand und spielte mit dem kleinen Kissen in meiner Hand von denen ich ungefähr vier an meiner Sitzecke hatte. Sie waren schön flauschig und passten zu den größeren Kissen, die zusammen das Ganze viel bequemer aussehen ließen.

"Bist du wütend auf mich?", wollte Liam wissen und ich konnte seine Schritte hören, wie er sich langsam zu mir näherte.

Schweigend schloss ich meine Augen und machte mir nicht einmal die Mühe in seine Richtung zu blicken. Ich war nicht wütend auf ihn oder sonst was. Es war auch kein Streit zwischen uns, aber wegen Ace wurde immer alles komisch und das hasste ich.

"Ich mag es nicht, wenn du still bist", sprach er sanft weiter und ich merkte, wie er sich neben mich setzte und das mit einem geringen Abstand.

"Aria", wurde er allmählich verzweifelt und ich schaute erneut in den dunklen Himmel.

"Es wäre alles so viel einfacher, wenn ich nicht leben würde", flüsterte ich und eine Stille übernahm uns, in der niemand ein Ton von sich gab.

"Wie kommst du auf so einen Gedanken?", konnte es Liam nicht glauben und durch seine Stimme konnte ich heraushören, dass er wütend war.

"Weil es die Wahrheit ist und das weißt du auch. Du hättest nie meine Schwester finden sollen. Ich hätte sterben müssen", erklärte ich monoton und schaute nicht zu ihm, denn ich konnte mir schon vorstellen, wie er mich gerade fassungslos anblickte.

"Aria-", begann er, aber ich unterbrach ihn, bevor er ein weiteres Wort verlieren konnte.

"Wegen mir passiert das alles. Verstehst du das? Wegen mir. Ihr seit alle wegen mir in Gefahr. Allein der Gedanke, das einem von euch etwas zustoßen könnte, treibt mich in den Wahnsinn", machte ich ihm meine Besorgnis bewusst, auch wenn ich alles in einem sehr ruhigen Ton erzählte.

"Es ist nicht wegen dir", sagte er.

"Ace will mich und nicht dich!", schrie ich am Ende mit meinen Nerven und starrte ihm dabei in die Augen, die mich durchdringend anschauten.

"Ace versucht dich im Moment nur zu beschützen", erinnerte er mich und ich verengte meine Augenbrauen bei seiner Aussage.

"Ich weiß nicht vor wen, aber er ist gerade nicht unser Feind", ergänzte er dazu und es schien so, als ob er seinem ehemaligen Freund glaubte.

"Du vertraust ihm", sprach ich meine Gedanken aus, worauf er sich leicht anspannte.

Er erwiderte nichts dazu und ließ seinen Blick auf seinen Händen ruhen, die locker auf seinem Schoß lagen. Jetzt wo ich ihn mir genauer ansah, konnte ich die Müdigkeit an ihm erkennen und wie erschöpft er eigentlich wirkte. Sein Anblick verlieh mir ein beruhigendes Gefühl und je länger ich ihn beobachtete, desto mehr verging die Aufregung in mir, sodass eine tiefe Ruhe entstand.

Es war relativ dunkel im Schlafzimmer, doch durch das Fenster strahlte noch genug Licht herein, sodass etwas meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Meine Augen blieben an Liam's Hals hängen, wo sich eine tiefe Narbe befand und deren Geschichte ich bis heute noch immer nicht kennenlernen durfte.

"Kann ich dich etwas fragen?", wollte ich zuerst seine Bestätigung dafür, da ich mir unsicher war, ob ich ihm wirklich diese Frage stellen sollte.

"Ja", antwortete er.

"Du hast mir nie erzählt, wie die Narbe an deinem Hals entstanden ist. Wie ist das passiert?", fragte ich vorsichtig nach.

Diese Frage hatte ich ihn fast vor einem Jahr gestellt, jedoch wurde er wütend und war schleunigst verschwunden. Es war vollkommen verständlich, dass er so reagiert hatte, denn wir kannten uns in dieser Zeit kaum, aber meine Neugier war zu groß gewesen, weswegen ich nicht den Mund halten konnte. Vielleicht war es gerade auch ein unpassender Moment, doch es war mir eingefallen und ich wollte es endlich loswerden.

Eine Narbe, die keine schöne Erinnerung an ihn hinterlassen hatte, aber ich wollte jedes einzelne Detail seines Lebens wissen und ihm das Gefühl geben, dass ich immer für ihn da war.

"Du musst es mir nicht erzählen, wenn du nicht möchtest", versicherte ich ihm.

Er schüttelte nur leicht den Kopf und blickte aus dem Fenster, dabei sah er sehr nachdenklich aus. Fast schon zerbrechlich. Irgendwie schien es so, als ob er sich daran erinnern würde, weshalb ich geduldig wartete und ihn nicht bedrängen wollte. Ich fühlte mich jetzt ein wenig schlecht, denn es war nicht meine Absicht gewesen ihn an seine schlimme Vergangenheit erinnern zulassen, jedoch konnte ich meine Worte auch nicht mehr zurücknehmen.

Aus diesem Grund griff ich nach seiner Hand und umschloss sie mit meiner, auch wenn seine viel größer war. Dadurch umspielte ein kleines Lächeln seine Lippen, was ich traurig erwiderte.

"Es waren schon vier Tage her, dass dein Vater gestorben war und ich hatte mich einigermaßen beruhigt, aber konnte noch immer nicht das Haus verlassen oder etwas anderes tun", begann er zu erzählen, wobei ich ihm aufmerksam zuhörte.

"Levin musste in die Arbeit, obwohl er mich ungern in diesem Zustand alleine ließ. Ich hatte ihn aber überredet zugehen und ihm versichert, dass es mir gut ginge. Ungefähr eine Stunde später klingelte es an der Haustür. Zuerst ignorierte ich es, aber es hörte nicht auf, weswegen ich gezwungenermaßen aufstehen musste", redete er weiter und machte eine kleine Pause, dabei schloss er seine Augen.

"Ace stand vor mir", sagte er und ich spürte, wie er sich wieder anspannte.

"Meine ganze Ruhe verschwand und ich packte ihn grob am Kragen und drückte ihn an die Flurwand. Ich brüllte ihn voller Zorn an und gab ihm die Schuld für alles, obwohl ich eigentlich der Schuldige war", wurde er am Ende leiser, dabei ließ er seinen Kopf leicht hängen und starrte vor sich hin.

"Er schubste mich zurück und schrie mich genauso an. Ace konnte nicht akzeptieren, dass er einen Fehler getan hatte. Vollkommen verzweifelt war er und hatte Angst wie ich. In seinen Augen konnte ich die Reue erkennen, aber er war viel zu stur, um sich das selbst überhaupt zuzugeben", beichtete mir Liam und ich konnte nichts dazu sagen.

"Mit diesen Schuldgefühlen wollte ich nicht leben, weshalb ich die Entscheidung traf mich bei der Polizei zu melden, aber er versuchte mich davon abzuhalten. Er schloss die Haustür und zog mich mit Gewalt in die Küche. Irgendwie wollte er mich beruhigen, doch er erlangte nur das Gegenteil. Am Ende wurde er so verzweifelt, das er sich ein Messer nahm und mir damit Angst einjagen wollte. Ich erkannte meinen besten Freund nicht mehr. Vor Wut näherte ich mich auf ihn zu und forderte ihn dazu auf, was er vorhatte, doch er traute sich nicht. Ich zwang ihn regelrecht und wollte ihm schließlich das Messer wegnehmen, aber er wehrte sich gegen mich bis er mich an meinem Hals traf", erklärte er.

Mit seiner Erzählung hatte er mich zum Schweigen gebracht und ehrlich gesagt, wusste ich nicht, was man dazu sagen sollte. Als Liam auch noch auf einmal leicht zum Lachen begann, verengte ich verwirrt meine Augenbrauen und blickte zu ihm.

"Damals hatte er mir unabsichtlich diese Narbe verpasst, doch die Narbe an meinem Bauch hatte er mit voller Absicht getan", erzählte er mir seinen Grund, warum er lachte.

"Hasst du ihn?", kam diese Frage über meine Lippen, die mich interessierte.

Seine Mundwinkel fielen augenblicklich und er blieb für eine kurze Weile still, als ob er nachdenken würde, obwohl er die Antwort bereits wusste. Er spielte mit meiner Hand bis er einmal tief ausatmete und sein müder Blick zu mir wanderte.

"Ja", antwortete er.

Der VerstandWhere stories live. Discover now