Kapitel 4

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An meiner Fensterecke saß ich still und alleine. Gedankenverloren blickte ich nach draußen, dabei lehnte ich den Kopf gegen die Wand. Meine Augen wanderten zum Himmel, wo die Dunkelheit herrschte, aber die Sterne es zum Scheinen brachten. Ein kleines Lächeln zierte meine Lippen, denn ich musste an meinen Vater denken.

Es wäre so schön, wenn er hier wäre. Ich vermisste ihn. In Worte könnte ich nicht einmal fassen, wie sehr. Mein Blick blieb an Liam's Fenster hängen, dabei stellte ich mir vor, wie es wohl wäre, wenn die beiden sich kennengelernt hätten. Grinsend schüttelte ich den Kopf über diesen Gedanken, denn es wäre mehr als nur amüsant gewesen. Er hätte ihn wahrscheinlich auf die Probe gestellt, ob er auch wirklich zu seiner Tochter passte, aber er hätte Liam gemocht. Da war ich mir sogar sicher.

Leider würde diese Begegnung aber nie passieren. Ich werde Liam nie meinen Eltern vorstellen können, aber er mich genauso seinen nicht. Wir hatten sie beide verloren und vielleicht war dies ein weiterer Grund, was uns so sehr zueinander verband.

Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, als plötzlich meine Zimmertür aufgerissen wurde. Erschrocken zuckte ich dabei zusammen und drehte mich verwirrt um, jedoch wurde ich nur noch verwirrter, als ich Hope vor mir erblickte. Völlig aufgelöst und außer Atem stand sie mitten im Raum. Gleichzeitig versuchte sie mir etwas zu sagen, aber sie redete so schnell und durcheinander, wobei ich gar nichts verstand.

Bevor ich sie überhaupt stoppen konnte, kam der nächste in mein Zimmer herein und diesmal war es Jack. Anscheinend war dieser genauso überrascht Hope so spät bei uns zu sehen.

"Hope!", stoppte ich sie schließlich, worauf sie mich mit großen Augen anschaute und mich am Ende umarmte.

Etwas überfordert von dieser Situation brauchte ich einige Sekunden, um ihre plötzliche Umarmung zu erwidern. Nebenbei blickte ich erneut zu Jack, der mich fragend ansah, jedoch schüttelte ich nur unwissend den Kopf, womit ich ihm kurz und knapp erklärte, dass ich keine Ahnung hatte, was hier eigentlich los war.

"Was ist passiert?", fragte ich vorsichtig, da ich mir langsam wirklich Sorgen machte.

Sie löste sich von mir und genau als sie sprechen wollte, hielt sie inne und drehte sich zu Jack um, der genauso neugierig wartete. Daher schauten wir ihn beide abwartend an, denn anscheinend ging es um etwas, was sie nur mir erzählen wollte und nicht einer dritten Person, auch wenn Jack es natürlich nicht weitererzählen würde.

"Ich gehe ja schon", brummte er beleidigt und verließ das Zimmer, wobei wir somit alleine waren.

Hope zog ich auf mein Bett, sodass wir uns setzen konnten und sie endlich zum Reden anfangen sollte, denn ich platzte jeden Augenblick vor Neugier. Nervös spielte sie mit ihren Händen und vermied es mir in die Augen zu sehen. Dabei fiel mir auf, dass ich sie zum ersten Mal zu unruhig und unsicher sah. Das war sehr untypisch für Hope.

"Hope", forderte ich sie auf und fasste zu ihren Händen, sodass ihre Aufmerksamkeit nun bei mir lag.

"Ich habe etwas gesehen", begann sie und atmete wieder unregelmäßiger.

"Ich war ja zwei Tage mit meinen Eltern nach London gefahren, um meine Großeltern zu besuchen. Der Bruder meines Vaters wohnt ja auch noch bei ihnen", redete sie weiter, aber stoppte, dabei krallte sie verzweifelt ihre Finger in meine Bettdecke.

"Hope was hast du gesehen?", half ich hier weiter, sodass sie auf den Punkt kam und nicht mehr lange zögerte.

"I-Ich...Ich...h-habe sie...beim Küssen erwischt", antwortete sie und so langsam fühlte ich mich genauso unwohl.

"Wen hast du beim Küssen erwischt?", fragte ich, obwohl ich eine Vermutung hatte.

"M-Meine Mutter mit meinem O-Onkel", flüsterte sie kaum hörbar und nach diesen Worten lief ihr die erste Träne über die Wange.

Mit geweiteten Augen starrte ich auf den Boden und brachte kein Wort raus. Das klang so unglaubwürdig. Ich kannte Mrs Davies nicht so gut, da ich sie bis jetzt immer nur flüchtig zu Gesicht bekommen hatte. Sie schaute aber nicht so aus, als ob sie ihrer Familie je sowas antun würde. Natürlich hängte sowas nicht vom Aussehen ab, jedoch sahen sie alle drei immer glücklich aus.

Hope hatte auch nie erwähnt, dass sie Probleme zu Hause hatten, denn das existierte bei ihnen nicht. Es herrschte immer eine wohlige Atmosphäre bei ihnen. Deshalb war ich ebenso aufgewühlt und einfach nur schockiert. Ich konnte mir nicht einmal annähernd vorstellen wie sich nun Hope fühlte.

"A-Aria was soll ich jetzt machen?", riss sie mich aus meinen Gedanken, wobei ich einige Sekunden brauchte, um ihre Frage zu verstehen.

Da ich nun nicht wusste, was ich genau sagen sollte, umarmte ich sie und das ganz fest, denn meine beste Freundin brauchte mich jetzt. Verzweifelt schlang sie ihre Arme ebenfalls um mich und weinte, dabei ließ sie den ganzen Schmerz raus. Bei ihrem Anblick verlor ich ebenso einige Tränen, die ich nicht zurückhalten konnte.

Es vergingen dabei Minuten und ich hatte langsam keine Ahnung mehr, wie lange wir so auf meinem Bett saßen. Ich wusste aber weiterhin nicht, was ich ihr sagen sollte. Mir war sowas noch nie passiert, daher konnte ich mich nicht in ihre Lage versetzen. Etwas Falsches wollte ich auch nicht vorschlagen, aber eine Sache musste sie tun. Nach diesem Gedanken löste ich mich ein wenig von ihr und wischte ihr die Tränen von der Wange weg.

"Du musst es deinem Vater erzählen", sprach ich nun und sie schien nachzudenken.

"Ich weiß", erwiderte sie schließlich.

"Ich werde es auch nicht verstecken. Sowas kann ich meinem Vater nicht antun, aber es wird ihn zerstören, Aria. Er liebt sie nämlich wirklich", redete sie mit Tränen in den Augen weiter.

Genau als ich dachte, dass sie wieder weinen musste, bekam sie eine Nachricht auf ihrem Handy. Da sie nicht nachschauen wollte, streckte sie mir es aus, sodass ich es entgegennahm. Es handelte sich um Jayden, der sich anscheinend Sorgen um seine Freundin machte. Er hatte mehr als fünfzig Nachrichten und einige Anrufe hinterlassen, doch die letzte war wirklich süß.

Aus diesem Grund hielt ich Hope ihr Handy vors Gesicht, wobei sie mich kurz verwirrt anschaute und sich nebenbei die nassen Wangen mit einem Taschentuch abtrocknete, jedoch blickte sie danach in den Bildschirm.

"Dein Idiot vermisst dich", las sie laut vor und lachte unter Tränen.

"Auch wenn er nicht hier ist, schafft er es trotzdem mich zum Lachen zu bringen", lächelte sie, was ich nur erwidern konnte.

Der VerstandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt