Juli NE 226 - Kapitel 4

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Im hellen Licht des nächsten Tages sah die Sache mit den verschwundenen Babys nicht mehr halb so dramatisch aus, wie es mir in der Nacht erschienen war. Ich beschloss deshalb, Vasili erst einmal nichts von meinen Befürchtungen zu erzählen, recherchierte aber am Niki zu den Fällen, die im Verdacht standen, im Zusammenhang zu stehen.

Am späten Nachmittag führten mich Vasili und sein Vater mit Stolz durch den Nutzgarten, der rund um das Dorf angelegt worden war. Ich pflückte mir eine Hand voll Himbeeren direkt vom Strauch und aß die saftigen, von der Sonne erwärmten Früchte, während wir unseren Rundgang fortsetzten.

„Die sehen ja toll aus!", rief ich entzückt und kniete mich neben das kniehohe Grünzeug, von dem mir Vasilis Vater kurz vorher erklärt hatte, dass es Kartoffelpflanzen waren. Ich betrachtete die schwarz-gelb-orangenen Käfer genauer, die hier über die Blätter krabbelten.

Vasili hatte hinter mir einen seiner seltenen Lachanfälle. Als ich fragend aufsah, erklärte mir sein Vater trocken: „Das sind Kartoffelkäfer. Diese Schädlinge können die Pflanze komplett kahl fressen. Wir bekämpfen sie jedes Jahr aufs Neue."

Ich kam mir so dumm vor. Was mussten die zwei Männer jetzt nur von mir denken? Ich hatte echt keine Ahnung von Pflanzen und Tieren. Dann straffte ich meine Schultern und erhob mich wieder. Ich war Journalistin und keine Agrarökonomin! Ich wusste vielleicht nicht, ob Bohnen an Bäumen wuchsen, aber man konnte eben nicht alles wissen. Ich klopfte Erde von meinem ohnehin braunen Hauskleid und wir setzten unseren Rundgang fort.

Als wir zum Konzert der Grillen im hohen Gras über eine Streuobstwiese gingen, begann Vasilis Vater zu sprechen: „Unser Grundbesitzer, Niocovat Lenevka, hat eine Mail geschickt. Er möchte dem Stipendiaten der Goldenen Sieben zu seinem hervorragenden Abschluss gratulieren." Sein Blick ruhte stolz auf seinem Sohn. „Du sollst ihn Anfang nächste Woche in seiner Villa besuchen." Vasili brummte missmutig.

„Das ist doch gut, oder nicht?", erkundigte ich mich verwundert bei ihm.

„Unser schönes Leben hier beruht darauf, möglichst wenig mit unserer Grundbesitzer-Familie zu tun zu haben", erklärte mir Vasili, „Je weniger sie daran erinnert werden, dass es uns gibt, desto besser. Außerdem werde ich nicht gerne daran erinnert, dass es jemanden gibt, der uns Befehle erteilen kann."

„Du hast leider keine andere Wahl, Vasili", mahnte sein Vater und dieser nickte.

„Ich komme mit", entschied ich. „Wenn du zusagst melde mich bitte mit an, ja?", bat ich Vasili, „Es wird ihn nicht weiter wundern, dass du deine Arbeitgeberin mitbringst. Und es wird ihn daran erinnern, dass du nicht für ihn arbeitest und er vielleicht deiner Sippe sagen kann, was sie zu tun hat, aber nicht dir."

Als mein Angestellter wohnte Vasili nun nicht mehr hier im Dorf seiner Sippe, sondern war offiziell im Palast in Petersburg gemeldet. Er unterstand der Familie Petuchow, wobei er als mein direkter Angestellter keine Anweisungen von anderen Familienmitgliedern befolgen musste, wie es auch bei meinem Assistenten gewesen wäre. Würde er nun auf mein Geheiß zum alten Besitz der Familie meiner Mutter reisen, also auf Besitz der Familie Petuchow, würde er kostenlos Essen und Unterkunft bekommen.

Doch Vasili sah mich skeptisch an. „Wenn du mitkommst, wie soll denn das gehen? Herr Lenevka würde mich sicher kurz empfangen, mir die Hand schütteln und kurz darauf könnte ich wieder abreisen. Wenn du mitkommst, serviert er dir irgendwelche Köstlichkeiten und will mit dir plaudern. Wie soll das zusammenpassen, wenn wir gleichzeitig dort sind?"

„Das ist nicht unser Problem", stellte ich klar, „Melde den Besuch von uns beiden an, deine Grundbesitzer werden sich schon was einfallen lassen." Insgeheim war ich ebenfalls gespannt, was die Familie Lenevka tun würde. Wenn sie nervös und unsicher waren konnte das nur von Vorteil sein, wenn ich etwas über die Gerüchte zu den verschwundenen Babys in Erfahrung bringen wollte.


Journalistin der GrundlosenWhere stories live. Discover now