Januar NE 226 - Kapitel 1

72 13 12
                                    

Ich hatte Vasili gebeten, mit mir einen Ausflug in das Naturschutzgebiet zu unternehmen. Dort gab es einen Meteoritenkrater, an dem man gut wilde Tiere beobachten konnte. Er hatte einiges organisiert von dem er mir nichts erzählen wollte. Als er mich am Morgen schon früh weckte, war mir die Überraschung allerdings recht egal und ich grummelte, dass ich noch müde sei. Er ließ sich aber nicht umstimmen und schärfte mir noch ein, mich so warm wie möglich anzuziehen.

Nach einem schnellen Frühstück zog ich also alles an, was mir Vasilis Cousine ausgeliehen hatten. Fellstiefel, Thermo-Hosen und Pelzjacke. Fellhandschuhe, Wollschal und Fellmütze. Diese Kleidungsstücke waren ohne Zweifel teuer gewesen. Wer hier im Winter den ganzen Tag in der Natur sein wollte, brauchte entweder beheizte Kleidung oder eben diese Ausrüstung, wie sie hier schon seit Jahrhunderten getragen wurde.

Als ich zum Platz in der Mitte des Dorfes kam, blieb ich verblüfft stehen. Die Überraschung war ein Hundeschlitten! Die Huskies der Sippe hatte ich bereits kennen gelernt. Vasili hatte mir erzählt, dass die Wildhüteral in dem unwegsamen Gelände des Naturschutzgebietes lieber mit den Hunden unterwegs waren. Andere Transportmittel waren weniger wendig und langsamer. Außerdem besaßen die Hunde einen sechsten Sinn für Schneeverwehungen und Untiefen und warnten vor Wölfen und Bären.

Er winkte mich ungeduldig näher und hieß mich vorne auf den Schlitten sitzen. Dort packte er mich warm in Decken und Felle ein. „Das Gespann gehört meiner Tante", erklärte er knapp, „Wir sind in drei Stunden da." Er stellte sich hinter mich auf den Schlitten, gab ein Kommando und die Hunde zogen an.

Die Fahrt war unbeschreiblich schön. Bei der Abfahrt hatte ich den Sonnenaufgang nur hinter den Bäumen erahnen können. Schon bald ging die Sonne richtig auf und tauchte den lichten Wald in warmes Licht. Während wir stetig bergauf fuhren, sah man überall nur Schnee, Tannen und strahlend blauen Himmel. Und vor mir sechs Huskys, die unermüdlich vorwärts jagten.

Nach drei Stunden Fahrt machte Vasili wie angekündigt halt. Er half mir vom Schlitten und versorgte die Hunde mit Wasser und Futter. Dann führte er mich einen kleinen Pfad zwischen den Bäumen hindurch zu einem Aussichtspunkt, an dem man einen kleinen Aussichtsturm aus Holz errichtet hatte. „Den Turm hat vor Jahren eine Filmcrew erbaut. Hier wurden einige beeindruckende Szenen für einen Naturfilm gedreht, der auch in den Lichtspielhäusern der Grundbesitzer in Real 4D gezeigt wurde", berichtete er und erklomm als Erster die Holzleiter, die nach oben führte.

Ich folgte ihm bald darauf in den kleinen Raum mit Bank und ließ meinen Blick in die Weite schweifen. Vor uns lag der Meteoritenkrater. Es war einer der Kleineren, der runde Kraterrand war gut zu erkennen.

„Hier hat man nichts zur Renaturierung unternommen", erklärte er, „Bei den Meteoritenkratern in dicht besiedelten Gebieten hat man in den Jahren nach der Katastrophe wieder Bodenmikroben angesiedelt oder gleich Erde verteilt, um Ackerland zu erhalten. Doch hier hat man nichts gemacht. Nun kommen mehrmals im Jahr Wissenschaftler her und beobachten, wie sich die Natur wieder zurück kämpft. Wie du siehst recht erfolgreich." Er hatte recht. Die Bäume waren noch recht klein, doch es gab viel Gras und kleinere Büsche.

Er holte ein Fernglas aus seiner Tasche und reichte es mir. Er packte seinen Fotoapparat, sein größtes Objektiv und ein Stativ aus. Als er alles aufgebaut hatte, schenkte er uns Tee ein und erzählte: „Durch die offene Landschaft im Krater gibt es viel Gras, auch jetzt noch, unter der Schneedecke. Deshalb kommen das ganze Jahr über gerne Hirsche hier her. Da Hirsche hierherkommen, sieht man auch mal Wölfe bei der Jagd. Bären halten jetzt allerdings Winterschlaf."

Einige Zeit saßen wir einfach nur schweigend nebeneinander, genossen den heißen Tee und die Aussicht über die Winterlandschaft. „Wie im Märchen", seufzte ich. Einem Impuls folgend, wollte ich Vasili die Geschichte erzählen, wie sich meine Eltern kennen gelernt hatten und dass meiner Mutter mein Vater wie ein Prinz vorgekommen war. Aber wenn ich nicht erwähnen konnte, dass wir in einem Palast wohnten, verstand man sie nicht. Ich bedauerte zum wiederholten Mal, dass ich mit ihm nicht offen sprechen konnte, sondern immer vorsichtig sein musste.

„Vielleicht sah es in Deutschland vor der Katastrophe und vor der Klimaerwärmung auch so aus wie hier? Rotkäppchen und der böse Wolf würden hier perfekt reinpassen", überlegte ich stattdessen laut und gestand: „Ich bin ein hoffnungsloser Märchenfan." Ich wusste, dass Vasili die deutschen Märchen grob kannte, da ich sie ihm für ein Projekt übersetzt hatte.

„Wolltest du als Kind immer eine Prinzessin sein?", fragte er schmunzelnd und nahm das Fernglas.

„Ja, das wollte ich tatsächlich", bestätigte ich und dachte zurück an meine Kindheit, wie ich in dem Palast und mit den hübschen Kleidchen tatsächlich wie eine Prinzessin aufgewachsen war.

„Das wäre doch ein netter Spitzname für dich: Printsessa*. Meine Prinzessin." So wie er das sagte, fühlte ich mich geschmeichelt und ich sagte einfach nichts dazu. Stattdessen hob ich das Fernglas wieder an meine Augen, um Vasili nicht ansehen zu müssen.

* russisch: Prinzessin

„Und heute?", fragte er weiter, „Wartest du auf den klassischen Prinzen auf einem weißen Pferd?"

Ich überlegte. Eigentlich wartete ich auf gar nichts. An einen Mann binden kam für mich nicht infrage. Dafür war mir meine Freiheit viel zu wichtig. Aber so was sollte man nicht ausgerechnet dem Mann sagen, mit dem man am Abend wieder das Bett teilen wollte. Zum Glück rettete mich ein Rudel Hirsche vor einer Antwort. Vasili war damit beschäftigt, Fotos zu machen, während ich sie mit dem Fernglas beobachtete.

„Heute leider keine Wölfe", sagte er bedauernd, als die Hirsche wieder über den Kraterrand abgezogen waren. Immerhin hatten wir bald darauf noch einen Adler beobachtet, wie er im Sturzflug eine Maus erbeutete.

Journalistin der GrundlosenWhere stories live. Discover now