April NE 226 - Kapitel 1

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Anfang April war es soweit: Vasili und ich fuhren mit dem Zug nach München zum Interviewtermin mit Ruodpert Sendling, Mitglied der Goldenen Sieben. Für die Fahrt trug ich noch Grundlosen-Kleidung, um mit dem günstigen Ticket zweiter Klasse reisen zu können. Am Bahnhof München ging ich mit meinem sorgfältig gepackten Köfferchen in eine abgelegene Damentoilette und zog mich um. Zum Glück hatte ich daran gedacht, nur Kleider aus Russland mitzunehmen, die ich ohne die Hilfe einer Bediensteten anziehen konnte.

Als ich als Grundbesitzerin in die Bahnhofshalle zurückkehrte, fiel mir als erstes auf, wie die Grundlosen wieder respektvoll Abstand zu mir hielten. An das hohe Gewicht des Kleides musste ich mich erst wieder gewöhnen. Der weite Rock aus mehreren Lagen Stoff, der bei jedem Schritt mitwippte, sowie das eng geschnürte Oberteil des Kleides, war altvertraut und doch nach so langer Zeit ungewohnt. Vasili sah mich irritiert an und trotz all unserer vorherigen Absprachen vergaß er, mir pflichtbewusst den Koffer abzunehmen. „Komm zu dir!", raunte ich ihm zu.

Er berappelte sich und nahm mein Gepäck entgegen. „Aber selbstverständlich, Frau Petuchow", sagte er pflichtbewusst, als wäre er schon immer mein Assistent gewesen und ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen.

Von ihm gesiezt zu werden war für mich genauso ungewohnt, wie es sich mit Sicherheit für ihn anfühlte. Aber in der Öffentlichkeit wäre es ein Unding gewesen, wenn ein Grundloser eine Grundbesitzerin geduzt hätte. Besser, wir übten jetzt schon mal, bevor wir in der Residenz der Familie Sendling auf Herz und Nieren geprüft wurden.

Vasili folge mir in gebührendem Abstand und wir gingen zu Fuß zum Stadtpalais von Ruodpert Sendling. Zum Glück war es nicht weit vom Bahnhof entfernt. Als Grundbesitzerin konnte ich unmöglich mit dem Bus fahren und eine Taxifahrt hätte ein tiefes Loch in meine Ersparnisse gerissen.

Ich hieß Vasili klingeln und wurde von einem Bediensteten mit der üblichen Verbeugung begrüßt und hereingebeten. Vasili folgte mir wie ein Schatten. Die Familie Sendling legte offensichtlich Wert auf kühles Design, die Eingangshalle wirkte auf mich eher wie ein nüchternes Wartezimmer eines Arztes: weiße Wände, Glas und Stahl. Während ich mich setzen durfte und mir Tee und Kekse serviert wurden, musste Vasili stehen bleiben und zusehen. Doch er machte seine Sache wirklich gut und ertrug alles mit stoischer Ruhe.

Schließlich wurden wir ins Studienzimmer geführt, das mit den vielen Bücherregalen und dem ausladenden Schreibtisch wohnlicher wirkte. Ruodpert war nicht viel größer als ich, schlank und hatte einen Dreitagebart, der genauso schwarz war wie seine Kurzhaarfrisur. Er kam auf mich zu und begrüßte mich galant mit dem in der High Society üblichen Handkuss, bei dem er meine Hand an seine Lippen führte, diese aber nicht berührte.

„Die Tochter der Familie Petuchow." Ruodpert nickte mir erfreut zu. „Es freut mich, dich kennen zu lernen, Anastasia."

„Die Freude ist ganz meinerseits", antwortete ich mit meinen besten Manieren und meinem charmantesten Lächeln.

Ruodpert setzte sich in einen Ohrensessel und bot mir den gegenüber von ihm an. Ich ließ mich in das flauschige Polster sinken. Aus dem Augenwinkel beobachtete ich Vasili, der wie geheißen auf einem Stuhl an der Seite Platz nahm und keine Miene verzog.

Ich erläuterte Ruodpert, dass ich seine Meinung gerne in einem Artikel verwenden würde und garantierte ihm die wortwörtliche Wiedergabe des Gesagten sowie ein Exemplar meines Textes zur Freigabe per Kurier. „Mein Fotograf wird am Ende noch ein Portrait von dir aufnehmen", schloss ich meine Ausführungen.

„Es freut mich, dass mal wieder eine Grundbesitzerin einen Artikel zu unseren Belangen verfasst", sagte Ruodpert und lehnte sich zufrieden in seinem Sessel zurück, „Die Grundlosen verdrehen einem ständig das Wort im Mund. Wir können gerne sofort loslegen."

Das Interview mit Ruodpert hatte eine ganze Stunde gedauert. Nachdem ich mir seinen groben Lebenslauf notiert hatte, befragte ich ihn nach seiner Meinung über die Stellung der Grundlosen und warum die Grundbesitzer die Geschicke des Landes leiten sollten. Das Portrait hatte dann nochmal eine halbe Stunde in Anspruch genommen.

Doch nun hatten Vasili und ich noch Zeit, bis der nächste Zug fahren würde und setzten uns auf eine Bank in einer Grünfläche nahe dem Bahnhof, wo wir uns ungestört unterhalten konnten. Ich war zum ersten Mal als die Journalistin aufgetreten, die ich immer hatte sein wollen und es war anstrengend gewesen. Ich war erleichtert, dass ich nun für eine Weile verschnaufen konnte, bevor ich mich Bahnhof vor der Heimfahrt wieder umziehen musste.

„Dieser Grundbesitzer ist echt das Letzte", brach es auf Russisch aus Vasili hervor, „Der hält uns Grundlose für dressierte Affen. Das darf doch wohl nicht wahr sein!"

„Deshalb waren wir dort", versuchte ich ihn zu beruhigen, „Er hat eine extreme Meinung. Aber genau darum geht es uns ja in meiner Abschlussarbeit. Ich habe das bekommen, was ich mir erhofft hatte."

„Reden alle Grundbesitzer so, wenn sie unter sich sind?", regte er sich weiter auf, „Redet deine Familie so? Redest du..."

„Nein!", unterbrach ich ihn mit Nachdruck und überlegte mir fieberhaft, wie ich ihn beruhigen konnte, „Lass uns das besprechen, wenn wir zurück sind, ja? So etwas hier zu diskutieren ist einfach zu gefährlich."

Ich seufzte tief. „Ich würde dich gerne in den Arm nehmen, aber in dieser Kleidung geht das nicht."

„Und ich würde dich am liebsten so wie du jetzt bist mit auf mein Zimmer nehmen", murmelte er, „Du siehst absolut scharf aus in dem Kleid."

„Sorg dafür, dass Finn mal einen Nachmittag nach Nürnberg fährt", sagte ich so lässig wie möglich, obwohl mich das alles andere als kalt ließ, „Dann bringe ich das Kleid mit und ziehe mich für dich um." Wir sahen uns hungrig in die Augen.

Dann brach ich entschieden den Blickkontakt ab. „Wenn uns jemand so sieht ist das auch nicht besser, als wenn wir uns in der Öffentlichkeit umarmen", raunte ich ihm warnend zu und wir saßen eine Weile still nebeneinander und starrten auf die Blumenbeete vor uns.

„Sein Gesicht hat mich irgendwie an den Mann erinnert, der die Roboter auf dem Campus wartet", sagte er.

Ich überlegte kurz. „Stimmt, der sieht diesem Ruodpert tatsächlich ein bisschen ähnlich."

Wenn ich diese unfähigen Roboter zurück geärgert hatte, musste sie ja jemand wieder zum Laufen bringen. So kannte ich mit der Zeit das ganze Wartungs-Team der Universität zumindest vom Sehen. Daneben stehen blieb ich natürlich nie. Ich warf höchstens einmal einen interessierten Blick zurück.

Nun überlegte ich fieberhaft, ob ich diesen Zufall vielleicht geschickt für unser Projekt nutzen könnte. „Als Gegenmeinung könnten wir diesen grundlosen Mann nach seiner Meinung fragen und dann die beiden gegenüberstellen."

Er nickte. „Und ich fotografiere ihn in der gleichen Haltung wie diesen Ruodpert. Das wird genial!"

Journalistin der GrundlosenWhere stories live. Discover now