Januar NE 225 - Kapitel 1

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Mit all dem Lernen und den vielen Projekten war das erste Semester wie im Flug vergangen. Wir waren gleich am Anfang gewarnt worden, dass in den ersten Monaten gnadenlos ausgesiebt wurde. Doch ich hatte alle Prüfungen nicht nur bestanden, ich hatte auch recht viele Punkte erreicht und war zufrieden mit meiner Leistung. Wegen der Sache mit Marie hieß es nun einfach abwarten, denn während der Semesterferien konnte ich eh nichts unternehmen.

So hatte ich mir etwas Ablenkung verschafft und mir über die Semesterferien Mehrtagestouren in einige größere Städte in Deutschland und umliegende europäische Länder gegönnt. Das Reisen als Grundlose war ohnehin spottbillig. Es hatte einen besonderen Reiz, sich als Grundlose mit mäßigen Deutschkenntnissen durchschlagen zu müssen. Ich hatte mir eifrig Notizen gemacht, um vielleicht das eine oder andere für ein Projekt im nächsten Semester verwenden zu können. 

Das zweite Semester würde nun bald starten, die ersten Studenten waren zurückgekehrt und ich nutzte die verbleibenden Tage, um mir noch eine letzte Stadt anzusehen. Meine Wahl war auf Bielefeld gefallen, eine große Stadt in Westfalen, die noch eine echte Burg aus der Zeit vor der Großen Katastrophe zu bieten hatte.

Als ich dort ankam, lag überall Schnee. Die Fahrbahnen und Gehsteige waren nur notdürftig geräumt worden und überall lagen größere Schneehaufen. Durch die Klimaerwärmung war es in Deutschland mit Schnee nicht mehr weit her. In Nürnberg war seit Jahren keiner mehr liegen geblieben, doch in Petersburg gab es zuverlässig in jedem Winter Schnee. Das verschneite Bielefeld fühlte sich ein bisschen wie Zuhause an.

Irgendwie schien die Stadt jedoch im Ausnahmezustand zu sein. Ich hatte nun schon genug deutsche Städte gesehen, um einschätzen zu können, dass hier mehr Menschen unterwegs sein müssten.

„Entschuldigung, ich bin Touristin. Kannst du mir sagen, warum hier so wenig los ist?", fragte ich aus einem Impuls heraus einen Grundbesitzer, der neben mir an der Ampel wartete.

„Es hat geschneit!" Er sah mich verwirrt an, als könnte er nicht verstehen, dass mir das noch nicht aufgefallen war. Dann verfinsterte sich seine Miene. „Was fällt dir eigentlich ein, mich zu duzen?", wetterte er, „Hat man dort, wo du herkommst, keinen Respekt?"

Ich hatte mal wieder nicht nachgedacht und war in alte Muster zurückgefallen. Als Grundlose hätte ich einen anderen Grundlosen fragen müssen! Zum Glück schaltete die Ampel in dem Moment auf grün und ich beeilte mich, von ihm wegzukommen.

Ich setzte meinen Weg durch die Innenstadt fort und bald ging es bergauf, der Burg entgegen. Die Sparrenburg thronte auf einem Berg über der Stadt. Um die Burg besichtigen zu können, musste ich den schlafenden Grundlosen im Pförtnerhäuschen erst wecken. Dem entgeisterten Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hatte er nicht damit gerechnet, dass jemand bei diesem Wetter die Burg ansehen würde. „Macht 2 Euro", trug er routiniert vor. Mit einem so günstigen Eintritt hätte ich nicht gerechnet. Der Pförtner interpretierte mein Zögern wohl falsch, denn er wies zur Bestätigung auf die Anzeigetafel, auf der geschrieben stand, dass die Einnahmen in die Instandhaltung der Burg flossen. Grundbesitzer mussten hier 1 Teuro zahlen. Ich zückte meine Geldkarte und bezahlte den lächerlich geringen Grundlosen-Eintritt.

Vom Aufstieg noch etwas außer Puste, schlenderte ich durch die mächtige Festungsanlage aus hellgelbem Sandstein und warf einen Blick in den hübsch ausgeleuchteten Brunnen, der schier endlos in die Tiefe ging. Ein Wegweiser zu den Kasematten erregte meine Aufmerksamkeit und ich streifte durch das unterirdische Gewölbe. Die ausgestellten Nachbauten von Kanonen und weiterem Kriegsgerät war aber nicht so meins.

Als nächstes wandte ich mich dem beeindruckenden Hauptturm zu. Mein Atem stand als kleine Nebelschwaden vor mir, als ich endlich seine Stufen erklommen hatte. Zum Glück war es nahezu windstill und somit nicht allzu kalt. Diese deutschen Wintermäntel für Grundlose, von denen ich mir notgedrungen einen hatte kaufen müssen, hatten nicht den russischen Standard und waren entsprechend dünn.

Der Ausblick, der sich mir bot, war die Reise wert. Es war still, als wäre alles zu Eis erstarrt. Jenseits der Festung erstreckten sich die Gebäude, Straßen und Parks der Stadt. Die sonst überall auf den Dächern in der Sonne blinkenden Solar- und Photovoltaikanlagen waren mit Schnee bedeckt. Die Bielefelder waren offensichtlich nicht auf Schnee eingestellt. In Russland schmolzen die Anlagen den Schnee automatisch weg.

Jetzt hätte ich gerne ein Erinnerungsfoto gemacht. Doch ich besaß keinen Fotoapparat und mein Niki hatte ich in Nürnberg gelassen. Und wem hätte ich es auch zeigen sollen? Wenn ich das Bild meinen Kommilitonen auf dem Niki gezeigt hätte, hätte mich das verraten. Eine Nachricht an meinen Bruder oder meine Mutter war mir zu riskant, das hätte meinen Aufenthaltsort verraten können. Also prägte ich mir einfach den schönen Moment ein und machte mich wieder auf den Weg nach unten.

An dieser Stelle: Grüße nach Bielefeld! Ich war dort und habe die Sparrenburg besichtigt. Irgendwoher muss man seine Inspiration ja nehmen :-)

Deine Sonja

Journalistin der GrundlosenWhere stories live. Discover now