Juli NE 226 - Kapitel 1

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„Es tut mir leid, aber das Flugzeug hat nur Plätze für Grundbesitzer", erklärte mir die Frau am Serviceschalter gelangweilt und warf einen kurzen Blick hinter mich, wo Vasili neben Aleksandr wartete.

„Ich zahle selbstverständlich den vollen Preis. Wir waren froh, so kurzfristig noch Flüge bekommen zu haben." Ich und lächelte sie gewinnend an, obwohl ich innerlich die Augen verdrehte.

„Sie verstehen nicht", fuhr sie fort, „Sie können keinen Grundlosen ins Flugzeug mitnehmen. Unsere Passagiere legen Wert darauf, unter ihresgleichen zu sein. Man kann nicht erwarten, dass jemand sich neben ihn setzt."

Überrascht hielt ich kurz inne. „Das Flugzeug hat nur einen Gang mit einem Sitzplatz rechts und links davon. Da sitzt niemand neben irgendjemandem", argumentierte ich mit mühsam zurückgehaltenem Zorn, „Ich bezahle den gleichen Preis wie für meinen eigenen Sitzplatz, warum kann ich meinen Fotografen nicht mitnehmen?"

Die Frau sah mich ohne Gefühlsregung an. „So sind die Bestimmungen. Ich kann da leider keine Entscheidungen treffen."

Mir platze der Kragen. „Dann holen Sie gefälligst jemanden, der das entscheiden kann!" Betroffen über meinen ungehörigen Ausbruch sah mich die Frau an wie ein erschrecktes Kaninchen. „Flott!", setzte ich hinterher und sie zuckte zurück. Fast hätte ich damit gerechnet, dass sie davonhoppelte, aber sie lief mit normalen, eiligen Schritten zu einer Tür und verschwand.

„Ruhig Blut, Schwester." Aleksandr trat hinter mich und legte seine Hand beruhigend auf meine Schulter. „Wenn du deinen Jähzorn hier rauslässt, dürfen wir womöglich mit dem Zug fahren."

Mein Bruder war wie unsere Mutter immer so versöhnlich und versuchte sich anzupassen. Ich dagegen bestand stets darauf, zu meinem Recht zu kommen. Oder wie in diesem Fall, zu dem wovon ich überzeugt war, dass es mein Recht war.

„Ich kann ja mit dem Zug nachkommen", bot Vasili leise an.

Genau das war die Lösung, die mein Bruder gefunden hätte und sie widerstrebte mir zutiefst. Ich schüttelte Aleksandrs Hand ab, drehte mich zu Vasili um und sagte: „Kommt überhaupt nicht infrage! Ich habe dir versprochen, dass du fliegen darfst. Und das wirst du auch."

In diesem Moment trat ein älterer Grundloser an den Schalter, hoffentlich der Vorgesetzte des verschreckten Kaninchens. „Wie kann ich Ihnen helfen, Frau Petuchow?", fragte er.

Das ließ mich hoffen. Wenn er nachgesehen hatte, wen er vor sich hatte, wusste er auch, dass meine Familie bei dieser Fluggesellschaft jährlich eine hübsche Summe ausgab. Ich trat wieder an den Schalter heran und legte stolz meinen nagelneuen internationalen Presseausweis darauf. „Ich bin Journalistin und reise mit meinem Bruder und meinem Fotografen nach Petersburg. Ich bin bereit, den vollen Preis für alle drei Sitzplätze zu zahlen aber man lässt meinen Fotografen nicht einsteigen."

Der Mann nahm den Presseausweis, untersuchte ihn und spielte mit ihm, während er überlegte und immer wieder zwischen mir und Vasili hin und her sah. Meine Nerven waren wieder zum Zerreißen gespannt, doch dann sagte er: „Wissen Sie, dieser Flug ist nicht für die Mitnahme von Personal gedacht. Doch wenn Sie einen wichtigen Mitarbeiter auf dem schnellsten Weg mitnehmen möchten..." Er machte eine kunstvolle Pause, in der ich mich darauf konzentrierte, meine Atmung ruhig zu halten.

Endlich fuhr er fort: „Unter diesen Umständen könnten wir ihn vielleicht in die letzte Reihe setzen. Sie und Ihr Bruder nehmen die Plätze neben und vor ihm. Er wird das Flugzeug beim Boarding als Letzter betreten und als Erster wieder aussteigen. So sollte sich niemand gestört fühlen."

Ich atmete erleichtert auf. „Das ist in Ordnung."

„Ich werde alles in die Wege leiten, Sie können zum Gateway gehen. Ich hoffe, Sie und Ihre Familie bald wieder bei unserer Fluglinie begrüßen zu dürfen." Mit diesen Worten verabschiedete er sich und wir gingen weiter zur Sicherheitskontrolle.

Endlich konnte ich wieder in einem richtig großen Bett schlafen, mit individuell für mich angefertigter Matratze und Bettbezügen aus dem kuscheligsten Stoff auf Erden. Aber ich würde hier allein schlafen, denn Vasili konnte als Grundloser unmöglich den Familienflügel betreten, geschweige denn nachts zu mir ins Zimmer schlüpfen.

Ihm war irgendwo im Flügel für die Bediensteten ein Zimmer zugewiesen worden und ich wusste nicht einmal, wie die Räume dort aussahen. Warum hätte ich dort auch jemals hingehen sollen? Wir hatten einen Verwalter nur für unseren Palast, der sich um solche Dinge kümmerte.

Frustriert warf ich die Bettdecke beiseite und stand auf. Aleksandr, Vasili und ich waren gestern auf dem Flughafen von Petersburg gelandet und per Taxi in den Palast meiner Familie gefahren. Da mein Vater bis spät abends auf einem Auswärtstermin gewesen war, war mir eine Begegnung mit ihm bisher noch erspart geblieben. Doch heute würde ich mich nicht mehr davor drücken können.

Ich bestellte mir über den Zentralrechner ein kleines Frühstück ins Esszimmer und begann mich zu richten. Meine Wahl fiel auf eine aufwändige Hochsteckfrisur und ein pompöses Kleid. Als mir eine Bedienstete das Kleid mit dem bauschigen Rock anlegte, fühlte es sich an wie eine Rüstung. Im Esszimmer traf ich meinen Bruder an. Erlas an seinem Niki und trank Kaffee.

Kaffee! Dieses Luxusgetränk aus importierten Kaffeebohnen konnten sich nur Grundbesitzer leisten. Wie hatte ich ihn vermisst! Schnell schenkte ich mir eine Tasse davon ein und genoss jeden Schluck. Vasili und meine grundlosen Freunde haben sicher noch nie Kaffee getrunken, schoss es mir durch den Kopf.

Aleksandr legte das Tablet weg. „Na, auch mal wach?", neckte er mich, lächelte mich dabei aber liebevoll an. Da hatte mich jemand vermisst. Dann wurde seine Miene ernst. „Leider soll ich dir ausrichten, dass du direkt nach dem Frühstück zu Vater ins Büro kommen sollst. Da es nun schon 9 Uhr ist solltest du dir auch nicht mehr viel Zeit lassen."

Mir war als würde sich eine kalte Hand um mein Herz legen. Ich war kurz davor, Aleksandr zu bitten, mitzukommen. „Wie ist seine Stimmung so?", fragte ich vorsichtig.

Mein Bruder wiegte den Kopf hin und her. „Eigentlich ganz gut, aber das kann sich schnell ändern. Ich fürchte, du musst da einfach durch."

Ich stellte meine Kaffeetasse ab. Auf das Frühstück hatte ich nun keinen Appetit mehr. „Ich geh am besten gleich", sagte ich niedergeschlagen und machte mich auf den Weg in den Zarenflügel, zum Büro meines Vaters.

Mein Vater ließ mich natürlich warten. Geduldig stand ich vor dem ausladenden Schreibtisch aus der Zarenzeit und betrachtete die aufwändigen Schnitzereien, während mein Vater noch irgendetwas ganz sicher fürchterlich wichtiges am Bildschirm erledigte. Immer diese Demonstration von Macht. Aber wenn es ihn milde stimmt, soll es mir recht sein.

Der Artikel, die Abschlussarbeit von Vasili und mir, war von mehreren Zeitschriften weltweit gedruckt worden und wurde seitdem heiß diskutiert.

„Anastasia!" Ich nahm wieder Haltung an. Er legte die Fingerspitzen aneinander und fixierte mich mit seinem Blick. „Du hast deiner Familie den Rücken gekehrt, um deinen eigenen Zielen nachzugehen. Du hast gegen meinen Willen Journalismus studiert. Dazu noch als Grundlose. Was hast du dir dabei nur gedacht!" Ich senkte beschämt den Blick und hörte, wie er ein paar Mal tief durchatmete.

Ruhiger fuhr er fort: „Du hast in letzter Zeit wirklich für einigen Wirbel gesorgt. Unsere PR-Agentur hat alle Hände voll zu tun. Zu deinem Glück allerdings auch unsere Verkaufsabteilungen weltweit. Die rebellische Tochter wirkt offensichtlich sympathisch und gerade die ärmeren Grundbesitzer-Familien kaufen vermehrt bei Petuchow Robotico." Ich hob verwundert die Augenbrauen, traute mich aber noch nicht, etwas zu sagen.

„Dein ungehöriges Verhalten hat letztendlich zu einer erfreulichen Entwicklung bei der Bekanntheit und den Verkaufszahlen aller unserer Produkte geführt. Dies hatte in unserer Familie schon immer einen hohen Stellenwert. Aus diesem Grund werde ich dir diese Eskapade nochmal durchgehen lassen." Ich atmete erleichtert auf und lächelte ihn an.

„Du darfst als Journalistin arbeiten", sagte er gnädig und ich wollte schon jubilieren, doch mein Vater war noch nicht fertig. „Versprich mir, dass du mit deinen Artikeln niemals gegen deine Familie arbeiten wirst", verlangte er, „Versprich mir, dass du unsere Familie stets würdig vertreten wirst, egal wo du bist."

Ich nickte. Ich war so erleichtert, dass ich nochmal glimpflich davongekommen war, dass ich ihm in diesem Moment jeden Wunsch erfüllt hätte. „Ich verspreche es, Vater", sagte ich mit fester Stimme.

Journalistin der GrundlosenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt