Januar NE 225 - Kapitel 2

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Gebannt stand ich in der Mensa vor einem Foto. Mein zweites Semester hatte vor einer Woche begonnen und der Studiengang Fotografie stellte hier in der Mensa die besten Werke aus dem vergangenen Semester aus. Diese Fotografie in schwarz-weiß hatte mich in ihren Bann gezogen. Sie zeigte mich! Ich saß im Stadtgarten von Nürnberg im Pavillon. Dabei hatte ich dem Betrachter den Rücken zugewendet und den Blick verträumt in die Ferne gerichtet. Aber das war nicht der einzige Grund, warum ich mich schon eine ganze Weile nicht davon lösen konnte. Durch die Komposition von Streben, Geländer, Büschen und Blumen schien alles auf mich zu deuten und hob mich hervor, obwohl ich eher im Hintergrund saß.

Als Grundbesitzerin hatte ich in der Schule natürlich eine solide Kunstausbildung genossen. Ich wusste alles über den goldenen Schnitt und Linienführung. Dieses Foto war genial getroffen. Die Grundlagen wurden sicher hier im Studiengang Fotografie unterrichtet, doch der Fotograf hatte es in seinem ersten Semester aufgenommen. Er war offensichtlich ein Naturtalent.

Ich lehnte mich noch ein Stück nach vorne, um das Foto genauer zu betrachten. Das war kein Druck, das war tatsächlich auf Fotopapier entwickelt worden. Wer machte denn heute noch sowas? Da tippte mir jemand von hinten an die Schulter, so dass ich mit meiner Nase auf dem Bild vor mir landete.

Empört wirbelte ich herum und fand mich einem Studenten gegenüber. Seine Kleidung wies ihn als Grundlosen aus und ich wollte gerade eine Schimpftirade auf ihn loslassen, als mir wieder einfiel, dass ich als Grundlose unterwegs war und er deshalb nicht den sonst gebührenden Abstand einhalten musste. Ich sagte deshalb lieber gar nichts und klappte meinen Mund wieder zu.

Er war nur wenig kleiner als ich. Bedauerlicherweise konnte ich als Grundlose keine hohen Absätze tragen, sonst hätte ich auf ihn herabsehen können. Sein Pulli war natürlich recht unförmig, aber er ließ eine muskulöse Brust und Oberarme vermuten, was ich durchaus interessant fand.

„Wie ich sehe starrst du nicht nur Fotos stundenlang an", sagte er.

Ich fixierte seine hellgrauen Augen und wir lieferten uns ein Blickduell. Sein Gesicht hatte die typische Skifahrerbräune, was seine kurzen, blonden Haare noch heller erscheinen ließ.

Ohne mit der Wimper zu zucken sagte er: „Du könntest Foto einfach kaufen, dann kannst du es jeden Tag anstarren. Sagen wir 8000 Euro?"

Ich wollte schon zustimmen. Diese Summe war für mich der Gegenwert eines Besuchs im Lichtspielhaus. Wäre ich als Grundbesitzerin hier, hätte ich das Bild für diese lächerliche Summe sofort gekauft. Doch für eine Grundlose wäre das der Gegenwert von ein bis vier Monatsgehältern. Ich blinzelte. Er hatte gewonnen. Zufrieden lächelnd steckte er seine Hände in die Hosentaschen.

„Du bist Vasili, der Fotograf dieses Bildes." Seinen Namen hatte ich auf dem Schild unter dem Foto gelesen.

Er nickte kurz und wendete sich seiner Fotografie zu. „Ich versuche immer, perfekten Moment zu erwischen. Diese Millisekunde, in der man dem Menschen, den man fotografiert, in Seele blicken kann."

„Demzufolge siehst du meine Seele in meinem Rücken, um nicht zu sagen in meinem Arsch?"

Vasils Mundwinkel zuckte. „Du bist also doch die Anna, vor der mich alle gewarnt haben."

Ich zog erstaunt die Augenbrauen hoch. Er deutete auf die Haftnotizen, die unter dem Bild an der Wand klebten. Es hatte sich so eingebürgert, den Künstlern auf diese Weise Feedback zu geben. Elektronisches Bewertungssystem? Nicht an dieser Steinzeit-Uni!

Ich beugte mich leicht zu den Notizen hinunter, um sie lesen zu können. Gewagtes Motiv! Ausgerechnet Anna. War nett, dich gekannt zu haben. Wenn es Anna nicht gefällt, solltest du auswandern! Da waren noch weitere, die ich aber nicht lesen konnte, weil sie auf Deutsch verfasst worden waren.

Ich richtete mich zufrieden wieder auf. „Mein Ruf ist besser, als ich dachte."

„Man hat mir gesagt, dass du alles konterst und dir nichts gefallen lässt", sagte er, „Als du vorhin sprachlos warst, dachte ich schon, du hättest schüchterne Doppelgängerin."

„Heute ist wohl einfach nur dein Glückstag", antwortete ich und lächelte. „Mir gefällt dein Foto und ich werde davon absehen, meinen Personenschutz-Androiden auf dich zu hetzen."

Er lachte laut auf. Einige Studierende drehten sich zu uns um und sahen ihn verwundert an.

Mein Vater hatte tatsächlich einen Personenschutz-Androiden, ohne den er das Haus nie verließ. Die nur halb ernst gemeinten Kommentare, die ich als Grundbesitzerin gegeben hätte, wurden interessanterweise hier bei den Grundlosen als besonders witzig aufgefasst. Ich hatte also das Glück, mich nicht allzu sehr verstellen zu müssen.

„Wo hast du so perfekt Esperanto gelernt?", fragte er. Wir hatten uns auf Esperanto unterhalten. An seinem Akzent konnte ich jedoch mühelos heraushören, dass er wie ich aus Russland kam. Vasili fuhr fort: „Ich belege hier Esperanto-Sprachkurs und Dozentin hat so einen üblen Akzent, dass ich sie kaum verstehe."

Diese Frage zu beantworten erforderte eine klare Lüge. Ich erzählte ihm das zurechtgelegte Märchen von meinen Eltern, die als Verwalter für die Familie Petuchow in Petersburg arbeiteten und den ausgemusterten Esperanto-Schulbüchern, mit denen sie es mir beigebracht hatten. Damit er nicht nachfragen konnte, leitete ich gleich über: „Die Dozentin für Esperanto hat den hier üblichen fränkischen Akzent. Ich habe auch meine Schwierigkeiten, das Esperanto mancher Dozentenal zu verstehen."

„Könntest du mir mit Esperanto helfen?", fragte er und sah mich hoffnungsvoll an. Ich rümpfte die Nase. Unterrichten war nun wirklich nichts für mich. Er schlug die Augen nieder. „Ich habe in der letzten Klausur Frage komplett falsch beantwortet, weil ich sie nicht richtig verstanden habe. Projektaufgaben müssen mir oft von anderen Studenten mühselig erklärt werden. Mir würde es schon helfen, wenn du mir manchmal etwas von Esperanto ins Russische übersetzen könntest." Er verlagerte sein Gewicht auf das andere Bein, bevor er aufblickte. Es war ihm sichtlich unangenehm, mich bitten zu müssen. Als ich noch immer nicht reagierte, sagte er: „Ich schenke dir dafür auch einen Abzug der Fotografie."

„Na gut", willigte ich schweren Herzens ein. Damit sein Esperanto möglichst schnell besser wurde, machten wir aus, dass wir uns nicht auf Russisch, sondern stets auf Esperanto unterhalten würden. Ich nannte ihm noch meine Zimmernummer, damit er mich finden konnte. Er lächelte zufrieden, als wir uns verabschiedeten.

Journalistin der GrundlosenWhere stories live. Discover now