Mai NE 225 - Kapitel 2

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Seit dem Stromausfall im Labor waren zwei Wochen vergangen und noch immer waren keine Gerüchte aufgekommen. Weder über den Kuss noch über meine Angst vor der Dunkelheit. Vasili hatte tatsächlich geschwiegen. Ich hatte ihn seit der Knutscherei absichtlich gemieden, doch das hatte er gar nicht verdient und ich fühlte mich deswegen schlecht. Zumal er mir den gewünschten Abzug nicht weiter vorenthalten, sondern einfach in einem Umschlag vor die Tür meines Zimmers gelegt hatte.

Umso mehr freute ich mich, als er sich auf der nächsten Studentenparty einfach neben mich auf den Boden setzte. Es war bereits weit nach Mitternacht, alle waren angetrunken und die Spiele wurden dementsprechend kindisch. Jetzt sollten alle Ich habe noch nie spielen. Jeder hatte einen vollen Becher Bier vor sich und wer das, was der Ansager nannte, bereits getan hatte, musste einen Schluck trinken.

„Kinderspiel", sagte Vasili in seiner gewohnt entspannten Art, „In Russland spielt man das mit Vodka statt mit Bier. Ich kann hier alle unter Tisch trinken." Es war einfach eine Feststellung.

„Hier sind eh schon alle am Limit, das Spiel ist vermutlich bald vorüber", sagte ich. Auch ich hatte einiges getrunken, doch als Grundbesitzerin war ich ständig auf Partys unterwegs gewesen und entsprechend trainiert.

Den Ruf als trinkfeste Russin hatte ich aber vor allem deshalb, weil ich am Morgen nach dem Besäufnis immer taufrisch aussah. Mein Geheimnis war eine große Packung Anti-Kater-Tabletten für 3 Teuro das Stück, die ich mir von Zuhause mitgenommen hatte. Vor dem Schlafengehen eingenommen, beseitigte sie die unangenehmen Nebenwirkungen eines Saufgelages über Nacht.

Da wurde das Spiel auch schon eröffnet. „Ich habe noch nie zwei Männer an einem Abend geküsst!", rief ein Mädchen. Ich trank einen Schluck und konnte es mir nicht verkneifen, zu Vasili zu spähen.

Er trank nicht. „Ich habe zwar schon Männer geküsst, aber nicht mehrere am gleichen Abend", erklärte er ruhig und zuckte mit den Schultern.

„Ich hatte noch nie eine Beziehung die länger als ein Jahr hielt", kam als nächstes. Diesmal tranken weder Vasili noch ich etwas.

„Ich hatte noch nie einen Dreier", sagte ein Mädchen, das dabei so lallte, dass ich für Vasili übersetzen musste, bevor wir beide einen Schluck Bier tranken.

„Ich habe noch nie eine Blondine geküsst", sagte einer der Kerle und kicherte, bevor er sich den Inhalt seines Bechers über das Shirt schüttete. Vasili trank einen Schluck und zwinkerte mir dabei über seinen Becher hinweg zu. Der Kerl mit dem durchnässten Shirt stand auf und stolperte über die Sitzenden, so dass noch weitere Becher umgestoßen wurden und viele fluchend das Weite suchten.

„Und schon ist das Spiel vorbei", sagte ich und erhob mich ebenfalls. Ich sah mich um. Meine langjährige Erfahrung im Feiern sagte mir, dass jetzt der richtige Zeitpunkt war, um zu gehen. Ob Grundbesitzer oder Grundlose, im Suff waren alle gleich. Die Stimmung war an einem Punkt, an dem man entweder angegraben oder in eine Schlägerei verwickelt werden würde.

„Ich verzieh mich", informierte ich Vasili und leerte meinen Becher.

Dieser nickte und leerte seinen ebenfalls. „Darf ich dich nach Hause bringen?", bot er mir an. Als er mir galant nach Grundbesitzer-Manier seinen Arm anbot, hängte ich mich lachend bei ihm ein.

Vor den Wohnblocks trennten sich unsere Wege und er machte zum Glück weder Anstalten, mich zu küssen, noch mich auf sein Zimmer einzuladen.

Journalistin der GrundlosenWhere stories live. Discover now