September NE 225 - Kapitel 1

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Auch das zweite Semester hatte ich mit einer guten Punktzahl abgeschlossen. Halbzeit! Die Semesterferien hatte ich wieder damit verbracht, Metropolen in Deutschland und weiteren europäischen Ländern zu besuchen. Anfang September, an einem der letzten Tage vor dem Beginn meines dritten Semesters, wollte ich mir die schwäbische Metropole Stuttgart ansehen und war deshalb bereits früh am Morgen aufgestanden. Als ich noch leicht verschlafen die Mensa betrat, war diese auf den ersten Blick leer. Dann entdeckte ich zu meinem Erstaunen Vasili, der einsam an einem der Tische saß.

Ich hatte Lust auf ein Glas warme Milch, ein Schokoladencroissant und einen Apfel. Also holte ich mir ein Glas heißes Wasser mit Milchpulver, ein Brot mit Schokoaufstrich und einen Vitaminriegel mit Apfelgeschmack. Ich stellte das Tablett mit meinem Frühstück auf Vasilis Tisch ab und setzte mich ihm gegenüber hin. Er nickte mir zu und löffelte weiter sein Müsli.

„Schon so früh wach?", fragte ich.

„Zeitverschiebung." Er sah zu mir auf und schob nach: „Ich bin erst gestern Abend aus Russland zurückgekehrt."

Ich nickte verstehend. In Petersburg, meiner Heimatstadt, war es zwei Stunden später als hier und somit bereits neun Uhr. Ich knabberte an meinem Vitaminriegel, während ich das Milchpulver in das lauwarme Wasser einrührte. „Ich bin ausnahmsweise früh aufgestanden, weil ich nach Stuttgart fahren möchte. Einfach nur die Stadt ansehen."

Nun hatte ich seine volle Aufmerksamkeit. „Bahnhof dort soll unglaublich fotogen sein. Wer kommt sonst noch mit?"

„Niemand. Aber du kannst ja trotzdem mitkommen", schlug ich ihm vor, ohne weiter darüber nachzudenken. Ich hoffte, dass ich es nicht nach kurzer Zeit bereuen würde. Stundenlang zu warten, bis er ein paar Fotos gemacht hatte, war sicher öde. Doch für einen Rückzieher war es nun zu spät. Er sagte begeistert zu.

Während ich meine Tasche mit Getränk und ein paar Keksen aus meinem Zimmer holte, schnappte sich Vasili seine Kamera und es konnte losgehen. Wir fuhren gemeinsam mit Bus und Bahn zum Hauptbahnhof von Stuttgart.

Der antike Bahnhof mit seinen markanten Kelchstützen war allein schon eine Reise wert und hätte sicher jedem der Fotografie-Studenten Schreie der Entzückung entlockt. Zum Glück war Vasili der ruhige Typ. Trotz meiner anfänglichen Zweifel war es gar nicht so übel, mit ihm auf Fotosafari zu gehen. Irgendwie fand ich es faszinierend, ihm beim Fotografieren zuzusehen. Er war völlig in seinem Element und schien seine Umgebung, bis auf die möglichen Motive, gar nicht wahr zu nehmen. Als er mit dem Bahnhof fertig war, war eine Stunde vergangen und ich hatte mich kein bisschen gelangweilt.

Ich steuerte die Königstraße an, die schicke Einkaufsmeile von Stuttgart. Wäre ich als Grundbesitzerin hier gewesen, wäre ich in den edlen Geschäften links und rechts herzlich willkommen gewesen. Doch so vermuteten die mir entgegenkommenden Menschen wahrscheinlich, dass ich als Angestellte eine Besorgung machte. Das störte mich aber nicht weiter.

Mir fiel auf, wie anstrengend es war, hier vorwärts zu kommen, wenn man zu zweit nebeneinander laufen wollte. Es war eine Fußgängerzone und Autos durften hier nicht fahren. Die Menschen waren jedoch nicht nur zu Fuß unterwegs. Fahrräder und Scooter hatten immerhin eigene Fahrstreifen, aber Skateboarder und Rollatoren fuhren kreuz und quer über die Fußwege. Ab und zu kreuzte noch eines dieser autonomen Postautos den Weg, um Pakete auszuliefern. Wenn man diese alle umschifft hatte, blieb man noch in einer Hundeleine hängen. Was für ein Chaos!

Als wir an einen größeren Platz kamen setzen wir uns auf die Steinstufen einer riesigen Treppe vor einem Museum, stärkten uns mit den von mir mitgebrachten Keksen und ließen die Innenstadt auf uns wirken. Uns gegenüber auf der anderen Seite des Platzes erhob sich das imposante Neue Schloss, das allerdings trotz des Namens uralt war. Die Dachkante des u-förmigen Gebäudes waren mit Statuen geschmückt. Die Fassade mit ihren unzähligen Rundbogenfenstern gefiel mir, sie war zwar reich verziert aber nur aus hellgelbem Sandstein und nicht überladen. Eindeutig keine russische Architektur. So wohnten also deutsche Grundbesitzer im Mittelalter!

Auf dem Platz davor flanierte die High Society. Ich begutachtete interessiert den Kleidungsstil, der hier gerade en vogue war. Eine Dame in einem roten Kleid stach mir besonders ins Auge. Ohne meinen Blick von ihr abzuwenden knuffte ich Vasili in die Seite und machte ihn auf sie aufmerksam. „Ich wette mit dir, die gehört zu den reichsten Familien in Stuttgart."

Er zuckte gelangweilt mit den Schultern. „Für mich sehen diese Grundbesitzeral alle gleich aus."

Amüsiert stellte ich fest, dass ich so früher über Grundlose gedacht hatte: in diesen Schlabberkleidern hatten sie für mich alle gleich ausgesehen.

„Auch innerhalb des Grundbesitzer-Zirkels gibt es feine Abstufungen", erklärte ich unbeirrt, „Schau dir ihr Kleid genau an. Durch den ausladenden Rock mit den barocken Hüftpolstern kann sie in kein normales Taxi einsteigen. Sie würde nicht durch die Autotür passen. Es gibt in großen Städten extra Taxis für solche Kleider, extra teuer natürlich."

Er brummte zustimmend.

„Das Kleid ist aus Seide, das sieht man am Glanz des Stoffes. Der Rock ist mehrlagig und dadurch ausladend. Damit zeigt sie, dass sie es sich leisten kann, einen ganzen Ballen Seide von China hierher schicken zu lassen."

Er brummte zustimmend.

„Ihr Kleid hat eine integrierte Korsage mit einer aufwändigen Schnürung im Rücken. Damit zeigt sie allen, dass sie Personal zum An- und Ausziehen hat", beendete ich meinen Vortrag.

Er sah mich interessiert an. „Was macht denn Grundbesitzer, wenn er seine Frau, na ja, auspacken möchte? Ruft er dann Personal?"

Ich prustete los. „Nein, die erfahrenen Grundbesitzer kennen sich bestens mit den verschiedenen komplizierten Verschlüssen und Schnürungen der Damen ihrer Gesellschaftsschicht aus. Das Wissen wird oft vom Vater an den Sohn weitergegeben", erklärte ich grinsend.

Er brummte und schüttelte ungläubig den Kopf. Zum Glück fragte er nicht nach, woher ich das so genau wusste.

Nachdem wir noch weitere zwei Stunden mit der Suche nach guten Motiven die Innenstadt durchkämmt hatten, taten mir die Füße weh. Also gingen wir zurück zum Bahnhof, um die Heimreise zum Campus wieder anzutreten. Das dritte Semester wartete auf uns!

An dieser Stelle: Grüße nach Stuttgart auf die Großbaustelle von Stuttgart 21!

Deine Sonja

Journalistin der GrundlosenTempat cerita menjadi hidup. Temukan sekarang