September NE 224 - Kapitel 2

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Mein Bruder war in aller Frühe abgereist. Sobald meine Mutter aufgebrochen war, konnte es losgehen. Ein letztes Mal legte ich ein Grundbesitzer-Kleid an und ließ mein Gepäck von Bediensteten zur Tür bringen. Oder besser zu dem Eingangsportal, vor dem unsere eigene Haltestelle für die autonom fahrenden Autos lag.

Ich ließ meinen eigenen Perscho vorfahren, natürlich passend zu meiner Lieblingshaarfarbe feuerrot lackiert. Als er mich vom Petuchow-Palast wegbrachte, sah ich ein letztes Mal wehmütig zurück. Wenn es schiefging, könnte ich ja in mein altes Leben zurückkehren, versuchte ich mich zu beruhigen. Doch diese Niederlage vor meinem Vater wollte ich unbedingt vermeiden. Ich richtete meinen Blick entschlossen nach vorne. Es war eine Fahrt ins Ungewisse, die ich da antrat. Doch wer das Zeug zu einer guten Journalistin hatte, würde auch so etwas schaffen.

Bevor das Abenteuer richtig los gehen konnte, musste ich noch zum Friseur. Denn der schwerste Schritt stand mir noch bevor: Ich musste mir meine feuerroten Haare wieder in meine Naturfarbe blond zurückfärben lassen. Das Rot wäre zu auffällig gewesen. Als die Hairstylistin fertig war, wagte ich einen kurzen, prüfenden Blick in den Spiegel auf die komplizierte, blonde Hochsteckfrisur auf meinem Kopf. Was habe ich nur getan? Ich blinzelte eine Träne weg. In diesem Moment war dieses Opfer für mich schwerer zu ertragen als die Aussicht, zwei Jahre lang nicht nach Hause zu können. Doch es half alles nichts: ich atmete tief durch und verließ den Friseur als Blondine.

Meinen Perscho hatte ich nach Hause geschickt, um meine Spuren zu verwischen. Ich rief mir ein Taxi und ließ mich zum Bahnhof bringen. Das autonome Taxi hielt vor dem Haupteingang und sofort kamen zwei Angestellte der Bahn, selbstverständlich Grundlose, die meine beiden Koffer aus dem Kofferraum holten. Sie folgten mir in gebührendem Abstand in die große Bahnhofshalle des Petersburger Hauptbahnhofs.

Da ich noch zwei Stunden Zeit hatte bis mein Zug abfuhr, steuerte ich den Warteraum für Grundbesitzer an. Der angenehm klimatisierte Raum war bereits gut besetzt, doch jeder nahm einfach an, dass ich hier ein Ticket erster Klasse hatte und so wunderte es niemanden, als ich mich mit einem Tee und einem Schokomuffin auf einem der bequemen Sessel niederließ und mich in eine der ausgelegten Zeitschriften vertiefte. Meine beiden Koffer stellten die Angestellten wortlos neben meinem Sessel ab.

Als nur noch eine Stunde Zeit bis zur Abfahrt des Zuges war, holte ich mein Niki hervor und schickte meiner Mutter und meinem Bruder eine vorbereitete Mail. Da die beiden so tun würden, als hätten sie von meinem Plan nichts gewusst, hatte ich in die Mail extra nochmal alles reingeschrieben. Auch, warum ich gegangen war und dass ich in zwei Jahren zurückkommen würde. Wo ich hin ging verriet ich aber nicht. Dann schaltete ich es aus.

Für einen Moment schloss ich die Augen und lehnte mich im Sitz zurück. Zwei Jahre waren eine lange Zeit. Ich spürte wieder die Tränen in mir aufsteigen und schluckte schwer. Doch dann lenkte ich meine Gedanken auf meinen Traum vom Journalismus-Studium, der nun endlich in Erfüllung gehen würde.

Ich stand entschlossen auf, griff selbst nach meinen Koffern und rollte sie hinter mir her aus dem Warteraum. Normalerweise hätte ich einfach Personal rufen können, doch jetzt stand meine Verwandlung in Anna bevor und da wollte ich keine Zeugen. Ich hatte mir vorab im Internet eine entlegene Toilette für Grundlose ausgesucht, die ich nun ansteuerte. In einem unbeobachteten Moment betrat ich sie und rettete mich gleich in eine der Kabinen.

Die Toilette war hell und eigentlich auch sauber. Der Geruch war merkwürdig und ich hoffte, dass das ein hier verwendetes Putzmittel war. Ich stellte einen der Koffer auf dem Toilettensitz ab und öffnete ihn. Dann zog ich mich komplett aus, verstaute meine Grundbesitzer-Kleidung inklusive Niki sorgfältig im Koffer und zog diese sackartigen, schlecht sitzenden Klamotten für Grundlose an.

Mit geübten Handgriffen löste ich die Hochsteckfrisur, die mir der Friseur gemacht hatte. Mit offenen Haaren verließ man als Frau in meinen Kreisen niemals das Haus. Dann noch schnell die beiden edlen Koffer in großen alten Taschen verstaut und fertig.

Ich trat aus der Kabine und blieb überrascht stehen. Die blonde Grundlose, die mich da mit offenem Mund aus dem Spiegel über den Waschbecken anstarrte: das war ich! Ohne meine geliebten, feuerroten Haare war ich mir selbst fremd. Doch ich konnte mir keine Sentimentalitäten leisten. Schnell schminkte ich mich ab, fuhr mir mit den Fingern durch die Haare und machte mir einen Pferdeschwanz.

Das alles fühlte sich mehr nach Abendroutine an als nach Vorbereitungen für eine Zugreise. Allein der Hosenstoff zwischen meinen Beinen: so was kannte ich nur von meinen Schlafanzügen. Natürlich gab es auch Grundbesitzerinnen, die Hosen trugen, aber außer zum Reiten und sonstigen Sportarten kannte ich das nur von Hosenanzügen, die während der Büroarbeit getragen wurden.

Ungeschminkt, mit einem blonden Pferdeschwanz, Stoffhosen, einem schlabbrigen Pulli und zwei großen, alten Taschen in den Händen ging ich zurück in die Bahnhofshalle. Bekannte, mit denen ich mich sonst zum Feiern traf, hätten mich vermutlich nicht wiedererkannt. Showtime!


Journalistin der GrundlosenOnde histórias criam vida. Descubra agora