September NE 224 - Kapitel 3

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Ich wäre nur zu gerne geflogen. Doch die Flugtickets wurden auf den Namen gebucht. Mein Vater hatte genug Connections, um meinen Zielflughafen noch vor der Landung ausgemacht zu haben. Abgesehen davon war Fliegen dank der Umweltsteuer teuer und mein Budget ab jetzt begrenzt. Deshalb hatte ich mich für eine Bahnfahrt entschieden. Der große Vorteil an der Reise per Zug war, dass ich hier als Grundlose ein wesentlich günstigeres Ticket kaufen konnte.

Von der entlegenen Toilette, in der ich mich in eine Grundlose verwandelt hatte, musste ich ein ganzes Stück laufen, um zu einem Ticketschalter zu kommen. Ich konzentrierte mich darauf, nicht ständig an mir herum zu zupfen und versuchte die beiden elend schweren Taschen in meinen Händen mit Würde zu tragen.

In meinem gewohnt forschen Schritt steuerte ich die Haupthalle an. Doch anders als gewohnt, hielten die Grundlosen nun keinen respektvollen Abstand mehr und ich musste immer wieder ausweichen oder abbremsen, um nicht mit jemandem zusammenzustoßen.

Schließlich hatte ich es zu den Schaltern geschafft. Dort hatte ich mich gedankenlos an den Serviceschalter für Grundbesitzer angestellt, was mir erst auffiel, als mich die Grundbesitzerin vor mir mit gerümpfter Nase musterte.

Persönliche Betreuung gab es für Grundlose selbstverständlich nicht. Ich wechselte schnell in eine Schlange vor den Ticketautomaten und hielt kurz darauf mein Zugticket zweiter Klasse von Petersburg nach Nürnberg in Händen.

Der Bahnsteig war überfüllt und ich hatte Schwierigkeiten, mich mit meinen Taschen zu einer der Wagontüren durchzuquetschen. Die Taschen waren auch wirklich unverschämt schwer. Aber ich trug sie weiter. Ich! Die noch nie etwas länger als ein paar Meter hatte tragen müssen!

Mit schmerzenden Fingern und gefühlt um mehrere Zentimeter länger gezogenen Armen stellte ich schließlich die Taschen auf einem der Sitze im Großraumwagen der zweiten Klasse ab. Ich beobachtete verstohlen, wie andere Reisende ihre Gepäckstücke über ihren Köpfen verstauten und biss die Zähne zusammen. Unter Aufbietung all meiner Reserven hievte ich die Taschen ebenfalls nach oben und ließ mich erschöpft in einen Sitz am Fenster plumpsen.

Mir war nicht nach Gesprächen mit den anderen Reisenden. Mir reichte es schon, so nah neben diesen einfachen Grundlosen sitzen zu müssen. Ich dachte an alles was ich zurückließ und beobachtete die Landschaft, die vor dem Fenster des fahrenden Zuges vorüberzog.

„Ein Skandal!", rief die Frau vor mir plötzlich aus und ich schreckte hoch. Ich hatte wohl kurz geschlafen. „Wenn ich es dir doch sage! Lew hat sich völlig schamlos an seine Arbeitgeberin rangemacht und jetzt ist er ihr Bettgespiele", ereiferte sich die Frau neben ihr, „Sie hat ihn in einem ihrer Häuser in Moskau untergebracht, wo er sich von vorn bis hinten bedienen lässt. Diese Grundbesitzerin besucht ihn dort jede Woche. Der Ehemann der Grundbesitzerin ist angeblich damit einverstanden." Das Gespräch ging noch einige Zeit lautstark weiter, doch ich bemühte mich, noch etwas zu schlafen. Was interessierte mich das Getratsche von Grundlosen?

Nach drei Mal Umsteigen und einer üblen Nacht im Liegewagen, kam ich endlich in Nürnberg an. Doch die Tortur war noch nicht vorbei. Als Grundlose konnte ich mir nicht einfach eines der autonom fahrenden Taxis rufen. Ich musste mich mit dem Bus bis zur Universität durchschlagen. Den Busbahnhof fand ich problemlos, aber die Auswahl des richtigen Busses überforderte mich. Ich verstand die Fahrpläne nicht, sprach kein Deutsch, die Passanten kein Esperanto und mit Russisch brauchte ich gar nicht erst anzufangen. Doch irgendwann verstand einer der Leute die ich ansprach, zu welcher Universität ich wollte und schickte mich zum richtigen Bus.

Völlig erschlagen kam ich auf dem Campus an. Die altehrwürdige Internationale Universität für Journalismus und Fotografie lag am Stadtrand von Nürnberg. Wie ich im Sekretariat erfuhr, gab es zwei große Wohnblocks, in denen Mädchen und Jungen streng getrennt untergebracht waren. Ich verdrehte genervt die Augen, als mir die nette Dame am Empfang diese Spießigkeit erklärte. Ein Traum für alle Fans von gleichgeschlechtlicher Liebe, der Beginn von jeder Menge Heimlichtuerei, wenn man als Mädchen nun mal auf Jungs stand.

Ich rief mich zur Ordnung. Schließlich wollte ich irgendwann wieder in mein Grundbesitzer-Dasein zurückkehren. Deshalb hatte ich sowieso beschlossen, keine intimen Beziehungen mit Grundlosen einzugehen und am besten auch nur lockere Freundschaften zu schließen.

Wenigstens waren die Wohnblocks nicht rosa und hellblau gestrichen, sondern orange und grün. Ich bekam meinen Key fürs Zimmer und hatte den Rest des Tages Zeit, mich einzurichten, bevor am nächsten Morgen meine Studentenzeit endlich beginnen würde. Das Zimmer hatte einen dunkelgrünen Teppichboden und war weiß gestrichen. Es war genauso spartanisch wie billig eingerichtet. Zwei Schränke, ein Tisch mit zwei Stühlen und über den beiden Betten hing jeweils ein Regal an der Wand. Ich packte das Nötigste aus und legte mich dann in das weiter von der Tür entfernte Bett, um erst mal ausgiebig zu schlafen.

Ein Rumsen riss mich aus dem Schlaf. „Arbeite gefälligst leise, sonst wirst du gefeuert!", knurrte ich. Dann ging mir auf, dass ich nicht im Palast in Petersburg war. Ich rappelte mich schnell im Bett auf und blickte in die schreckgeweiteten Augen eines Mädchens in meinem Alter mit kurzen, braunen Haaren und einem spitzen Kinn. Wie eine Maus, die von der Katze erwischt wird, schoss es mir durch den Kopf.

Sie stammelte irgendetwas, das nicht nur wegen ihrer vor Nervosität piepsigen Stimme unverständlich war. Das war wohl deutsch. Der Tonfall war allerdings genau der gleiche, den eine Bedienstete angeschlagen hätte, um sich für ein Missgeschick bei mir zu entschuldigen. Ich musste ihre Worte nicht verstehen, um zu wissen, was sie sagte. Ich nickte und hob beschwichtigend meine Hände.

Erleichtert stellte ich fest, dass sie mich wohl ebenfalls nicht verstanden hatte. So ein Ausrutscher hätte mich schon am ersten Tag auffliegen lassen können. Ich musste unbedingt in Zukunft vorsichtiger sein und mir das Reden im Halbschlaf dringend abgewöhnen.

Mein Blick fiel auf einen einfachen Koffer zu ihren Füßen, der offensichtlich vom Bett gefallen war. Der halbe Inhalt ergoss sich auf den Boden. Offensichtlich war meine Zimmernachbarin eingetroffen.

„Ich heiße Anna", sagte ich langsam auf Esperanto. Die meisten Grundlosen verstanden zumindest die Basics. Da sie schüchtern nickte, sprach ich weiter: „Ich bin aus Russland, aus Petersburg. Ich studiere Journalismus."

Sie nickte wieder. „Ich auch", piepste sie mit einem starken Akzent. Dann errötete sie heftig. „Nicht aus Russland", versicherte sie mir stotternd, „Ich studiere auch Journalismus!"

Innerlich seufzte ich. Was war das denn für eine graue Maus? Ich zeigte auf den heruntergefallenen Koffer. „Ich helfe dir." Sie bedankte sich überschwänglich. Ich setzte mich auf den Boden und legte nacheinander all ihre Sachen aufs Bett. Trotz des Unglücks waren ihre Kleidungsstücke ordentlicher zusammengelegt als meine.

Die Verständigung gestaltete sich recht schwierig. Sie sagte mir ihren Namen, den ich mir aber einfach nicht merken konnte. Lara, Jana, Lana? Diese kurzen Namen der Grundlosen waren alle so ähnlich. Während dem Abendessen in der Mensa fand ich heraus, dass sie aus einem kleinen Dorf kam und allein von der Größe des Campus völlig eingeschüchtert war. Wie kam sie auf die Idee, dass Journalismus das Richtige für sie wäre? Das kann ja heiter werden!

Journalistin der Grundlosenحيث تعيش القصص. اكتشف الآن