Oktober NE 225 - Kapitel 2

75 15 19
                                    

Ende Oktober war es soweit: Studierende aus dem dritten Semester von Journalismus und Fotografie reisten in vier vollbesetzten Reisebussen nach München, zur Presse-Agentur Giesing, einer bekannten Nachrichtenagentur.

Gleich nach der Ankunft wurden wir in kleine Gruppen aufgeteilt und nacheinander von Angestellten der Agentur durch das Haus geführt. Während der Tour durfte man einen Blick in verschiedene Büros werfen, in denen Zeitungen und Zeitschriften erstellt sowie Nachrichten online gestellt wurden. Wer gerade warten musste, bekam in einem großen Besprechungsraum einen Image-Film vorgeführt, in dem detailliert die Abläufe in der Agentur erklärt wurden.

Schließlich wurden wir alle in die große Kantine geführt, wo wir etwas zu trinken bekamen. Ich nahm mir eine Flasche Wasser und setzte mich mit Jana, Giusi, Mona und Lisa an einen der Tische. Nachdem sich alle im Saal einige Minuten lautstark über ihre Erlebnisse ausgetauscht hatten, zog die junge Dozentin, die unseren Ausflug begleitete, unsere Aufmerksamkeit auf sich. „Wir haben großes Glück", rief sie mit leuchtenden Augen, „Der Besitzer der Nachrichtenagentur Giesing hat sich spontan bereit erklärt, ein paar Fragen zu beantworten."

In dem Moment betrat ein selbst für Grundbesitzer-Verhältnisse hochgewachsener Mann Anfang sechzig den Raum. Sein graumeliertes Haar trug er in einem Pferdeschwanz. Er war zugegebenermaßen auch für mich eine eindrucksvolle Erscheinung. Im Raum wurde es mucksmäuschenstill.

„Danke für die Ankündigung", begann der Grundbesitzer und nickte lächelnd unserer Dozentin zu, die daraufhin rot anlief. Du meine Güte, mach dich nicht nass!

„Ich bin Heriman Giesing, meiner Familie gehört diese Nachrichtenagentur. Ich bin gerne bereit, dem vielversprechenden Nachwuchs der Nürnberger Universität ein paar Fragen zu beantworten. Eine einfache Meldung per Hand genügt." Er sah erwartungsvoll in die Runde.

Meine Hand schoss nach oben. Nachdem er mir zugenickt hatte, konzentrierte ich mich auf meine besten Grundlosen-Manieren und stand respektvoll auf. „Es wurde uns erzählt, dass Sie auch mit freien Journalisten zusammenarbeiten. Werden diese gezielt für ein Projekt eingestellt oder schicken diese Ihnen einen fertigen Artikel?", fragte ich mit fester Stimme auf Esperanto.

„Sowohl als auch", antwortete er, „Manchmal haben wir eine gute Idee, aber nicht die Manpower, sie umzusetzen. Dann geben wir das Projekt an jemanden von Extern. Wenn du einen Artikel geschrieben hast, kannst du ihn uns zuschicken und wenn er gut ist, werden wir ihn veröffentlichen. Die Details zur Einsendung findet ihr auf unserer Homepage." Er nickte mir nochmal zu und sah sich wieder erwartungsvoll um. Es meldete sich jedoch niemand.

Da hob ich wieder die Hand. „Was ist der Unterschied zwischen den grundlosen Journalisten und den Journalisten aus Grundbesitzer-Kreisen, die für Sie arbeiten?"

Diese Frage war ihm sichtlich unangenehm. „Grundbesitzer arbeiten stets freiberuflich für uns. Sie sind nie bei mir angestellt. Ich gebe ihnen ein Projekt oder veröffentliche Artikel, die sie mir schicken." Damit war die Frage nicht beantwortet, aber das Thema für ihn vom Tisch. Nicht mehr ganz so erfreut ließ er den Blick durch den Saal schweifen. Er würde mich sicher nicht nochmal aufrufen. Es meldete sich zunächst aber wieder niemand.

Da hob Vasili die Hand. Nach einem Nicken von Heriman stand auch er auf und fragte in inzwischen passablem Esperanto: „Gilt für freischaffende Fotografen Gleiche wie für selbständige Journalisten?"

„Bei den Fotografen haben wir ein festes Netzwerk, da ist es schwer, reinzukommen", sagte Heriman, „Viele Bilder bekommen wir direkt vom Journalisten passend zum Artikel zugesendet. Die freien Journalisten arbeiten meistens mit einem eigenen Fotografen zusammen. Schließlich muss dieser oft schon bei der Recherche für den Artikel mit vor Ort sein." Heriman erklärte die Fragerunde für beendet, verabschiedete sich und verließ die Kantine.

„Dass du dich getraut hast, ihn einfach so anzusprechen", sagte Giusi ehrfürchtig.

„Ich habe noch nie mit einem Grundbesitzer gesprochen", pflichtete ihr Jana bei.

Ich musste lachen. Das stimmte so nicht. „Wisst ihr, das sind auch nur Menschen", erklärte ich schmunzelnd.

„Du hast nicht einfach nur etwas gefragt", stellte Lisa klar, „Mit deiner zweiten Frage hast du ihn provoziert. Das hätte ich mich nicht getraut. Immerhin möchten wir als Journalisten vielleicht mal für seine Agentur arbeiten."

„Daran habe ich nicht gedacht", gab ich zu, „Aber selbst, wenn er sich dann noch an mich erinnert, es gibt noch mehr Agenturen als diese hier." Aber ich musste mir eingestehen, dass ich mir beim Stellen der Frage durchaus bewusst gewesen war, dass Anna, die Grundlose, gar nicht existierte.

Journalistin der GrundlosenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt