21 - Grenzen

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Tränen liefen mein Gesicht runter. Ich hasste es vor anderen weinen zu müssen!
Tief atmete ich durch und blickte in den Himmel. Ich wischte die Tränen weg.
Er hatte mich genau an meiner Schwachstelle getroffen! Wie sollte ich dann standhaft bleiben?
Ich musste Devran nicht das ganze erzählen. Ich hätte auch einfach aufhören können. Aber ein Gefühl in mir sagte, dass er meine Geschichte kennen sollte. Er sollte sie kennen um mich nicht nochmal zu verletzen!
Vielleicht hatte ich es einfach gebraucht Mal wieder alles rauszulassen.
Wie gerne würde ich jetzt in Demirs Armen sein? Wie gerne würde ich jetzt wollen, dass er mir sagen würde, dass alles gut sein wird? Alles würde dann auch besser werden. Mein Bruder hatte immer einen Weg gefunden!

„Wieso hast du mir das erzählt?", unterbrach Devran irgendwann die Stille. Wir setzten uns in Bewegung und näherten uns dem Leuchtturm. Den Steg hatten wir schon halbiert.
„Damit du mir nicht nochmal solche Fragen stellst!", erklärte ich.
Stille trat wieder ein. Wir gingen Richtung Leuchtturm.
„Ich wusste das Verhältnis mit deiner Mutter nicht. Ich hätte nicht so eine Geschichte erwartet.", hörte ich Devran irgendwann.
„Jetzt weißt du es."
„Ja... Es tut mir leid für dich... Du weißt mindestens wo deine Mutter ist.", meinte er daraufhin. Was meinte er damit? Verwirrt blickte ich ihn an.
„Meine Mutter - ist verschwunden könnte man sagen... Ich weiß nicht wo sie ist. Vor Jahren habe ich ihre Spur verloren.", offenbarte er.
„Wirklich?", gab ich schockiert von mir. Wie - wie kam es denn dazu? Ich wollte nicht nachfragen, da es schon schmerzvoll genug sein müsste, das mitgeteilt zu haben.
„Es ist eine lange Geschichte. Ich habe es nur gesagt, dass du den Wert deiner Mutter kennst. Auch, wenn ihr euch nicht versteht, ist sie trotzdem deine Mutter und du bist ihre Tochter. Genießt die Zeit zusammen, denn man weiß nie, wann man sich zuletzt sehen wird.", sagte Devran.

Mir überkamen plötzlich Schuldgefühle. Ich versetzte mich in Devrans Lage und konnte mir gut vorstellen wie es gewesen wäre, wenn meine Mutter verschwinden würde.
Oh Gott. Das sollte niemand erleben.
„Ich weiß es gut, Menschen zu schätzen. Was du erlebt hast, musste ich mit meinem Bruder durchmachen. Es ist eine unbeschreibliche Leere, wenn wertvolle Menschen aus deinem Leben gehen.", fasste ich meine Gedanken zusammen.
„Ja. Es gibt tausende Worte, aber die Lücke in dir zu beschreiben ist unerklärlich.", stimmte mir Devran zu.
Nach langer Zeit fühlte ich mich wieder verstanden. Und das von Devran? Ich fühlte mich seltsam dabei.
Aber tatsächlich verstand genau er mich. Man kann nur das wissen, was man selber erlebt hat. Wir beide hatten wichtige Menschen im unserem Leben verloren.

Ruhig näherten wir uns immer mehr dem Ende des Stegs. Der Leuchtturm stand vor uns. Ich blickte hoch schaute auf das Licht. Es drehte sich im Dunkeln.
Danach wandte ich mich zu Devran. Er schien müde zu sein und ließ sich auf der Kante des Stegs nieder. Wellen prallten gegen die Steine am Ufer. Hier hatte man eine schöne Aussicht zum Stadtviertel. Der Ort gefiel mir. Wortlos setzte ich mich zu Devran.
Leicht drehte ich mich zu ihn. Er blickte tief in die Ferne.
Gedankenversunken. Erschöpft.
Er schloss die Augen und atmete tief die Luft ein.
„Alles in Ordnung?", fragte ich irgendwann.
„Alles kann nie in Ordnung sein.", meinte er.
„Hast du Literatur studiert, oder so? Kann Freud oder Kafka dein Verwandter sein?", gab ich verwirrt von mir. Ein minimales Lächeln ging auf seinem Gesicht auf.
„Wie kommst du darauf?", antwortete er mir.
„Manchmal redest du wie ein Philosoph oder Poet.", erklärte ich.
„Ich habe nichts studiert. Ich habe mich zum Boxer ausbilden lassen... Wenn man die Zeit hat über sein Leben nachzudenken, kommt man auch zum Nachdenken.", antwortete Devran. Er schien genug über sein Leben nachgedacht zu haben.

„Wie war dein Leben in Bolu eigentlich? Du bist mit 19 in eine andere Stadt gegangen, warst auf dich alleine gestellt. Und du hast ein neues Leben angefangen...", änderte ich das Thema.
„Da ist aber jemand interessiert. Willst du noch ein Steckbrief von mir?", wandte er sich zu mir.
„Übertreibe es nicht. Mich wundert es nur, wie man das als 19 jähriger geschafft hat. Ich bin 20 und ich könnte mir das nicht zutrauen."
„Ich ging in die Ferne, um am Leben zu bleiben. Dabei war ich innerlich schon längst tot.", gab er Gedankenversunken von sich. Für Devrans Gehen war mehr als nur ein Mordfall schuld. Er schien mehr erlebt zu haben.
Ich ging in die Ferne, um am Leben zu bleiben.

Die Wunde der VergangenheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt