7 - Zielscheibe

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„Da bist ja! Wo warst du so lange?", fragte mich Taner, nachdem er mir die Haustüre geöffnet hatte. Als er meine verweinten Augen bemerkte, war ihm aufgefallen, dass etwas schief gelaufen war. Ich betrat die Wohnung und ging wortlos an meinem Cousin vorbei.
„Devran? Was ist passiert?", hörte ich ihn hinter mir. Kurz zögerte ich und sammelte die Worte zum Reden.
„Warte, lass uns in die Küche gehen.", meinte er und ging mit mir Richtung Küche.

Erschöpft setzte ich mich am Esstisch hin. Taner gab mir Wasser. Ich bedankte mich und trank das Glas in vier Zügen leer. Taner wartete immer noch auf meine Antwort.
„Ich habe Öykü und Yaman gesehen.", gab ich leise von mir.
„Was? Wo denn?"
„Am Friedhof... Sie - haben sich so verändert! Ich habe sie so vermisst!", begann ich zu erzählen. Ihre enttäuschten Gesichter fielen mir wieder ein.
„Das Treffen ist nicht gut ausgegangen, wie es scheint.", schlussfolgerte Taner betrauert. Ich nickte.
„Sie wollen mich nicht. Das verstehe ich auch. Ich war ein scheiß Bruder für sie...", sagte ich und lachte aus Wut.
Ich war wütend auf mich! Aber was brachte schon nachträgliche Reue?
Eine Träne lief mir runter. Schnell wischte ich sie weg. Doch es folgten mehrere Tränen.
„Oh Devran...", näherte sich Taner und legte seine Hand auf meine Schulter. Die Stille traf zwischen uns ein.
„Devran, ich weiß wie sehr dir Öykü und Yaman bedeutet hat. Ihr seid zusammen aufgewachsen, ihr habt den Schmerz alle zusammen erlebt. Was ihr durchgemacht habt war nicht einfach! Yaman war damals noch 13! Öykü 15 und du 17! Ihr könntet euch gegenseitig stärken... Wieso bist du aber gegangen? Wie konntest du deine Geschwister lassen?", fragte Taner verwirrt am Ende.
Meine Wunde im Herz fing wieder an zu bluten. Er hatte Recht.
„Das frage ich mich auch seit Jahren! Ich weiß es nicht!", gab ich gereizt von mir und stand auf. Hastig fing ich auf und ab zu laufen. Es brannte in mir! Ich konnte nicht still stehen.

„Du weißt in welchem dunklen Loch ich steckte! Ich habe mich jede Nacht berauscht! Ich wollte mich vom Schmerz ablenken! Der Druck war zu groß! Alle wollten, dass ich als großer Bruder standhaft blieb... Keiner wusste, dass ich der Schwächste von allen war! Ein Atahan zu sein erfordert kaltblütig zu sein. Ich konnte das nicht sein! Du weißt, was am Ende passiert ist Taner... Ich musste aus dieser Stadt gehen! Sonst wäre ich jetzt hinter Gittern. Du weißt, dass ich am Ende mit Blaulicht zum Polizeirevier gebracht wurde! Ich kann Öyküs verzweifelten Blick von damals nicht vergessen, als mich die Polizei vor ihren Augen verhaftet hat! Ich konnte als den 19-jährigen Devran nicht klar denken und bin abgehauen, okay?! Ich musste das machen, weil ich keine Zukunft hatte!", ließ ich den ganzen Schmerz aus mir raus. Tief zog ich die Luft ein und aus.
„Ich bin mit einer großen Summe an Geld aus dieser dunklen Stadt abgehauen! Ich war bereit alles und jeden zu lassen! Du wusstest nicht, dass ich nicht mehr atmen konnte! Plötzlich sind deine Eltern nicht mehr da... Weißt du, was mir Onkel Kadir gesagt hat? Mein Sohn, rette dich aus dieser Schlucht. Tu das für deine Geschwister und deine Eltern. Ich weiß, dass in dir ein starker Atahan steckt.", zitierte ich Wort zu Wort.
„Ich dachte, dass ich mich aus der Schlucht befreie, wenn ich abhaue! Aber so war es nicht. Ich habe gelernt, dass der Schmerz dich verfolgen wird, solange er in dir ist... Mein Schmerz ist nicht vergangen in den Jahren. Aber ich habe gelernt damit umzugehen. Ich habe mich aus der Schlucht befreit und möchte wieder zu den Atahans gehören! Wir sind eine Familie! Streitigkeiten gehören zu einer Familie, keiner ist und kann perfekt sein. Ich weiß, dass ich Fehler habe. Aber ich will wieder alles verbessern, will euch wieder zurück! Ich bin gekommen, um euch zu unterstützen!", waren meine letzten Worte.

Tief atmete ich die Luft ein und grub mein Gesicht in meine Hände.
Als ich meine Augen wieder öffnete, bemerkte ich plötzlich, dass wir nicht alleine waren. Und das Gespräch hatte womöglich nicht nur Taner gehört. An der Türe standen meine Onkel und mein Opa.
„Devran!", erwähnte mein Opa meinen Namen. Lange schaute er mich an. Es knisterte förmlich in der Luft. Gespannt wartete ich, dass er weitersprach. Seine Augen glänzten. Hatte er etwa Tränen in den Augen?
„Im Wohnzimmer erwarten wir euch.", sagte er mit brüchigem Unterton nur und drehte sich wieder um. Hatte ich etwas falsch gemacht?
Onkel Kadir schaute mich lächelnd an.
Wortlos verließen Taner und ich die Küche und folgten meinem Opa.
„Dein Opa hat dich vermisst. Er hat das Potenzial in dir gesehen, sei dir gewiss.", wandte sich mein Onkel Kadir leise zu mir. Stimmte das? War die Wut meines Opas gegenüber mir vergangen?
Was passierte jetzt? Wieso hatten sich alle im Wohnzimmer versammelt?
Alle waren da. Meine Tante, ihr Mann, meine Onkel, meine Cousins. Nur Öykü und Yaman waren nicht da.

Die Wunde der VergangenheitWhere stories live. Discover now