3 - unter Trümmern

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Die Uhren zeigten vier Uhr morgens an, als ich in mein Auto einstieg und eilig losfuhr.
Meine Hände zitterten noch. Vereinzelt liefen mir Tränen runter. Ich wischte sie weg und zog tief die Luft ein.
Mir ging es immer noch nicht gut. Ich konnte nicht klar denken. Es fühlte sich so an, wie wenn meine Welt ineinander gefallen sei. Stück für Stück war Jede Mauer gefallen, die ich als Halt um mich gebaut hatte. Unter den Trümmern kämpfte ich und suchte nach einem Ausgang.
Jemand schien mit meinem Verstand zu spielen! Eine andere logische Antwort gab es nicht!
Wie kommt es plötzlich dazu, dass mir ein Video von meinem Bruder geschickt wird? Nach so langer Zeit! Fünf Monate nachdem er verschwunden ist. Nach mehr als 150 Tagen.
Er hat ein Clip aufgenommen, als wüsste er, dass er verschwinden wird.
Die Gedanken fühlten sich wie Messerstiche in meinem Kopf an. Die ganze Nacht war ich wach geblieben und hatte mir die Seele ausgeweint. Meine Augen waren rot und angeschwollen. Die Augenlieder fühlten sich so schwer an, doch ich war hellwach.

Die Sonne war langsam am Aufgehen, als ich die Straßen Richtung Westen überquerte. Da ich Volkan mein Schlüssel abgegeben hatte, war ich mit dem Auto seines Vaters unterwegs. Er hat zwei Autos und Erhan ist nicht so dramatisch wie meine Mutter. Ich denke sogar, dass er mir mehr Wert wie meine Mutter gibt.
Ich hatte schon Enver angerufen, doch er war wie erwartet nicht rangegangen. Es war auch vier Uhr morgens. Ich glaubte kaum, dass er jetzt wach war. Trotzdem hatte ich mein Glück versucht. Ich muss ihm von der CD berichten! Er kann mir bestimmt weiterhelfen.
Ich muss wissen, wer mir diese Nachricht geschickt hat. Der Gedanke war in meinem Kopf eingraviert. Ich musste mit jemandem darüber reden. Deswegen war ich hier her gekommen.
Nachdem ich das Auto geparkt hatte, stieg ich aus und näherte mich mit schnellen Schritten dem hohen Gebäude vor mir.
Die Eingangstüre stand schon offen. Ich betrat das Treppenhaus und ging mit dem Aufzug ins achte Stockwerk.
Dort ging ich direkt auf die Türe am Ende des Flurs zu. Nervös fing ich an zu klingeln.
Ich wusste, es war früh am Morgen, doch ich hoffte immer noch, dass mir die Türe geöffnet wurde.
Mach bitte die Türe auf! bat ich innerlich.
Ich wollte nicht zurückgehen. Die Worte in mir quälten mich beinahe. Ich musste sie mit jemanden teilen. Ich brauchte einen Ratschlag.

Während ich hektisch auf und ab lief, wurde mir wie erhofft die Türe geöffnet.
Ein müder Umut stand vor mir und schaute mich verwirrt an. Gleichzeitig auch genervt.
„Damla? Was ist passiert?", fragte er besorgt, als er mich zu Gesicht bekam.
„Ich - habe eine Post bekommen!", erklärte ich aufgeregt und zog die CD aus meiner Jackentasche raus. Sein Blick rutschte von mir zur CD.
„Was? Was für eine Post? Es ist vier Uhr morgens Damla, wovon redest du?", fragte er und trat zur Seite. Ich betrat die Wohnung. Das alles klang jetzt total sinnlos. Kein normaler Mensch klingelt in der Früh bei jemanden, weil sie eine Post bekommen hat.
„Ich weiß auch nicht, was los ist. Aber - Den Inhalt hat Demir aufgenommen!", teilte ich mit. Meine Stimme wurde immer brüchiger, bis sich Tränen in meinen Augen versammelten. Aber gleichzeitig hatte sich ein Lächeln auf meinem Gesicht geziert.
„Von Demir?", fragte er und erstarrte auf der Stelle.

Umut konnte es auch nicht glauben. Keiner hätte damit gerechnet. Er wusste auch, dass ich keine Späße machte.
Ich spürte, wie sich meine Augen langsam füllten, als ich die Aufnahme vor die Augen bekam. Ich konnte die Tränen nicht mehr aufhalten und fiel Umut hilflos um den Hals.
„Oh Damla!", gab er verzweifelt von sich und erwiderte meine Umarmung. Er war hellwach geworden, als er gehört hatte, dass es um Demir ging. Ich schloss die Augen und ließ die Tränen laufen. In Sekunden wurde Umuts
T-Shirt nass.
„Es tut so weh ihn nach Monaten zu sehen! Er hat mir eine Nachricht hinterlassen!", schluchzte ich und wischte die Tränen weg.
„Lass uns mal das Video anschauen.", sagte Umut und ging in sein Zimmer. Mit seinem Laptop kam er zurück.

Wir hatten auf der Couch Platz genommen. Still saßen wir nebeneinander. Wir beide waren in unserer Gedankenwelt unterwegs. Umut hatte das Video auch angeguckt und war mindestens so verwirrt wie ich.
„Mein Bruder ist nicht um's Leben gekommen! Daran glaube ich seit Anfang an. Keiner hatte mir geglaubt. Meine Mutter hat es ehe nie interessiert, sie hat den Vorfall so angenommen, wie es behauptet wurde... Aber jetzt ist die kleine Hoffnung in mir wieder aufgeblüht! Demir lebt noch Umut, oder?", wandte ich mich zu ihm. Nachdenklich blieb sein Blick auf einem Punkt hängen.
„Das alles ergibt keinen Sinn! Demir wird als tot verurteilt, aber seine Leiche wurde nicht gefunden. Die Vermisstenanzeige steht noch offen, doch ist auch schon in Vergessenheit geraten. Und jetzt erhältst du plötzlich eine Nachricht von Demir, die er kurz vor seinem Verschwunden aufgenommen hat... Irgendjemand wusste von dem Clip und hat es dir geschickt. Wer aber? Und wenn Demir am Leben ist, wieso sagt es dir das nicht persönlich? Mein Kopf kann gerade nicht mehr klar denken.", schlussfolgerte er und grub sein Gesicht in die Hände.
„Ich habe auch so viele Fragen im Kopf, aber finde keine Antworten. Alles ist sinnlos! Ich verstehe nichts mehr! Ich weiß aber, dass wir das Enver zeigen müssen. Er arbeitet noch an Demirs Akte."
„Ja, wir müssen es auf jeden Fall Enver zeigen. Vielleicht findet er irgendein Hinweis."

Die Wunde der VergangenheitWhere stories live. Discover now