S I N G E N

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Evelyn

Ich beginne langsam, Samu zu vergeben. Er hat sich diese Situation nicht ausgesucht und kann sie dementsprechend nicht einfach von heute auf morgen ändern, auch wenn das nach wie vor meiner Wunschvorstellung entspräche. Was ich jedoch weiterhin nicht unterdrücken oder einfach abschalten kann, sind meine Gefühle. Es tut weh, ihn lachend mit weiblichen Kolleginnen auf dem Schulgelände zu sehen, während man selbst wie ein Häufchen Elend das Ende des Schultags herbeisehnt. Ich kann ihm nicht verwehren, sich mit anderen Personen zu unterhalten, ohne mich dabei komplett lächerlich zu machen. Dennoch versetzt es mir einen Stich, den ich einfach nicht ignorieren kann. Genervt wende ich mich von der sich unterhaltenden Lehrergruppe ab und beiße lustlos in mein Brötchen.

„Geht es dir immer noch nicht besser? Du guckst mal wieder wie sieben Tage Regenwetter!", schnauft Olivia, die sich mit allerletzter Kraft auf die kleine Steinmauer hievt, auf der ich schon seit geraumer Zeit allein sitze und meiner Eifersucht freien Lauf lasse. Auch sie beginnt nun, ihr soeben gekauftes Schokobrötchen aus der Mensa zu essen und sieht mich weiterhin fragend von der Seite an. „Ich weiß nicht", murmle ich und versuche, meinen Blick nicht schon wieder zu Samu schweifen zu lassen. Natürlich habe ich Olivia nicht die Wahrheit bezüglich meines überstürzten Besuches bei Herr Haber erzählt. Ich halte es für unklug, in der momentan herrschenden Situation noch mehr Leute in die ganze Geschichte einzuweihen, zumal ich Olivia noch nicht lang genug kenne, um ihre Reaktion einschätzen zu können.

Schon allein in Bezug auf Samu kann ich nicht riskieren, dass unser Kuss in irgendeiner Weise ans Licht kommt. Ich möchte auf keinen Fall, dass er meinetwegen seinen Job verliert oder mit ernsthaften Konsequenzen rechnen muss. Ich tischte Olivia aus diesem Grund eine Geschichte über einen Jungen aus Deutschland auf, wegen dem ich nun Liebeskummer habe. Zugegeben, dieses Hirngespinst hat wenig mit der Realität zu tun (die sieht weitaus schlimmer aus), der Liebeskummer ist jedoch wirklich existent und nicht ausgedacht. Ich habe ein schlechtes Gewissen, während ich Olivias mitfühlende Blicke in meinem Rücken spüre. Nachdenklich beiße ich mir auf die Lippe und frage mich, wie ich eine ernsthafte Freundschaft zu ihr aufbauen kann, wenn bereits deren Basis aus Lügen und Geheimnissen besteht.

Olivia merkt mir meine Unsicherheit und Traurigkeit an, wobei sie diese vermutlich völlig falsch interpretiert. „Ach komm, das wird schon wieder! Du musst dich ablenken und auf andere Gedanken kommen. Der Musikunterricht bei Herr Haber wird deine Stimmung sicherlich wieder heben." Sie grinst mich verschwörerisch an, während ich betreten schlucken muss. Ich weiß, dass sie mich nur aufmuntern will, aber ihre Aussagen sind gerade äußerst unpassend. „Ich glaube auch nicht, dass ich mich in nächster Zeit verlieben werde. Dafür ist die Wunde noch zu frisch. Ich möchte mich erstmal einleben und in erster Linie dich und die Klasse weiterhin kennenlernen", entgegne ich vorsichtig lächelnd und vermeide dabei, auf ihre Anspielungen einzugehen.

„Das kann ich völlig verstehen. Es gibt auch noch so viel zu erzählen, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll..." Olivia beginnt mich mit dem neusten Gossip der Schule zu versorgen, wofür ich ihr in diesem Augenblick sehr dankbar bin. Sie ist wirklich eine richtige Quasselstrippe und besitzt die Fähigkeit, mich mit ihren eigentlich belanglosen Alltagsgeschichten in ihren Bann zu ziehen.

Die Pause verfliegt dadurch rasend schnell, sodass nur die Klingel Olivias Redeschwall unterbrechen kann. Wir machen uns schleunigst auf den Weg zum Biologieraum, welcher am Ende des Schulgebäudes liegt. „Ich habe überhaupt keine Lust auf Genetik", murrt Olivia und lässt sich kurzerhand über die schlechten Unterrichtsmethoden unseres Biolehrers aus. Unbemerkt verdrehe ich die Augen und trotte größtenteils schweigend neben ihr her. „Bist du eigentlich immer so still?", fragt Olivia in eine kurze Redepause hinein. „Eigentlich überhaupt nicht", schmunzle ich. „Aber du lässt mir ja kaum Zeit zum Atmen. Außerdem...", sage ich und setze mich auf unseren Stammplatz ganz hinten in der letzten Ecke, „höre ich gerne anderen Menschen zu."

TEACH ME / Samu Haber FF Where stories live. Discover now