W A N D E R T A G

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Evelyn

Gedankenverloren starre ich durch die dreckigen Scheiben des vollen Schulbusses und lasse mich von meiner Lieblingsmusik berieseln. „Shake it off" ertönt es aus meinen Kopfhörern. Viellicht sollte ich Taylor Swifts Texte zu meinem Lebensmotto ernennen. Ella und ihre aufdringliche Clique können mir nichts anhaben. Ihnen fehlen Beweise, um mich wirklich beim Direktor anzuschwärzen, weshalb ich versuche mir wegen dieser Sache nicht allzu große Sorgen zu machen. Möglicherweise wäre es dennoch gut, in Zukunft keine Aufmerksamkeit zu erregen.

Das ist auch mit der Grund, warum ich bisher nicht großartig die Gegend um unser Haus erkundet habe. Einzig und allein nicht, weil ich Samu keinesfalls abseits der Schule begegnen möchte. Zwar fehlt mir seine genaue Adresse, jedoch weiß ich ja bereits, dass er ganz in meiner Nähe wohnen muss. Als ich den Bus nahezu als letzte verlasse, sehe ich schon alle meine Mitschüler an der Bushaltestelle stehen. Seufzend schultere ich meinen Rucksack, rücke meinen Pferdeschwanz zurecht und steuere auf Olivia zu, die etwas abseits steht. „Hey Evelyn! Bereit für die große Wanderung?" „Mehr oder weniger", murmle ich und sehe mich suchend nach unseren Lehrkräften um. Als ich schließlich Samu erblicke, wird mir kurz schwindelig.

Der letzte Tag schießt mir durch den Kopf und ich erlaube mir kurz die Erinnerung an seine Hand in meiner. „So Leute, kommt mal alle her!", ruft Herr Rajamaa über den Schulhof. „Wir werden jetzt in Richtung Wald laufen. Bitte achtet darauf, dass ihr nicht vom Wege abkommt. Wir wollen schließlich nicht, dass wir jemanden verlieren,oder?" Zustimmendes Kopfnicken.„Super, dann würde ich sagen, los gehts!" Während sich alle in Bewegung setzen, bemerke ich, dass Samu bewusst Blickkontakt meidet und den Kopf konsequent gesenkt hält. Er scheint sich nicht gerade darüber zu freuen, dass er diesen Tag mit uns verbringen muss. Lustlos trottet er Herr Rajamaa hinterher.

Olivia hingegen versucht mich in ein Gespräch zu verwickeln. Ich kann jedoch nur auf Ella und ihre Grazien achten, die mir wissende Blicke zuwerfen. Verbissen erwidere ich sie und lasse erst von ihnen ab, als sie in der Menge der Schüler verschwinden. „Hast du Elyas schon gesehen?" Sie deutet auf einen hochgewachsenen Jungen einige Meter vor uns. „Ist er nicht unglaublich attraktiv?" Ich erwache aus meiner Starre. „Ja, er sieht schon nicht schlecht aus. Bisher habe ich den noch gar nicht richtig wahrgenommen." „Kein Wunder, du hast ja nur Augen für deinen Lieblingslehrer", spottet Olivia.

„Ist der nicht eher was für dich?", entgegne ich. Wir stapfen durch den dicken Schnee, was durchaus recht beschwerlich ist und schon nach kurzer Zeit meine Beine schwer werden lässt. Ich weiß schon warum ich in meiner Freizeit auf Wanderungen verzichte. Genau aus solchen Gründen. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass Olivia rot wird und sich verlegen die langen blonden Haare aus dem Gesicht streicht. „Na ja, er gefällt mir schon irgendwie." Ich hätte ihr diese Frage wirklich nicht stellen sollen. Was jetzt folgt ist eine reine Lobeshymne. Elyas hier, Elyas da.. Unwillkürlich schalte ich ab und lasse sie vor sich hin quatschen.

Stattdessen fische ich mein Handy aus meiner Hosentasche und entsperre es. Lea und ein paar andere Freunde aus Deutschland haben sich gemeldet und schicken mir Grüße aus dem ebenso kalten Deutschland. ich bleibe kurz stehen und registriere, dass wir im Wald angekommen sind. Fröstelnd schlinge ich meinen Schal noch enger um den Hals und betrachte die Bilder meiner Freunde. Sie wirken so glücklich und losgelöst, was mir abermals zu schaffen macht. Natürlich will ich nicht, dass sie ewig um mich trauern, dennoch wirkt es so als wäre ich nie da gewesen. Jemand zupft an meinem Jackenärmel.

„Evelyn, du hörst mir überhaupt nicht zu! Wo bist du nur mit deinen Gedanken?" Überrascht sehe ich hoch und blicke in Olivias missbilligendes Gesicht. Tatsächlich hat sie ihren Redefluss unterbrochen und sieht ein wenig verärgert aus. „Ich gehe jetzt zu Elyas", verkündet sie leicht angesäuert und lässt mich zurück. Achselzuckend rufe ich ihr hinterher: „Dann mach das doch!" Genervt wiege ich mein Handy in der Hand und öffne schließlich doch die Kamera, um Lea eine kleine Nachricht zukommen zu lassen. Zusätzlich mache ich ein Selfie von mir im verschneiten Wald. Ich weiß, wie albern das ist, aber ich will, dass es so aussieht als wäre ich ebenso glücklich wie sie gerade.

Das ich das Gegenteil davon bin, muss sie ja zum jetzigen Zeitpunkt nicht wissen. Als ich mich nach meiner Fotoaktion umsehe, kann ich zu meinem erschrecken niemanden meiner Mitschülern, geschweige denn Lehrer ausmachen. Es wirkt, als wären sie wie vom Erdboden verschluckt. Orientierungslos laufe ich in die Richtung, in der ich die anderen vermute. Doch nach einigen Metern, kann ich nach wie vor keinerlei Menschen entdecken. Atemlos bleibe ich stehen. Kalte Schneeflocken bedecken mein Gesicht und ich sinke immer tiefer in den Schnee ein. Zusätzlich ist mir furchtbar kalt, weshalb ich sofort anfange zu zittern. Panik ergreift mich. Wie kann man nur so blöd sein?

Was, wenn mich hier niemand findet und ich einen qualvollen Tod sterbe? Mir entweicht ein schluchzen und ich lasse mich in den eisigen Schnee sinken. Sogleich bin ich vollkommen durchnässt, was ich jedoch ignoriere. Stattdessen versuche ich Olivia anzurufen. Doch muss ich kurz darauf feststellen, dass ich kein Netz habe und meine vollkommen sinnlose Nachricht an meine Freunde ebenfalls nicht versendet wurde. So ein Mist! Ratlos sehe ich in die verschneiten Baumkronen, die auf einmal ziemlich bedrohlich aussehen. Mittlerweile herrscht ein regelrechtes Schneegestöber, was es mir kaum ermöglicht die Hand vor Augen zu sehen. Mit letzter Kraft richte ich mich auf und versuche irgendwie in Bewegung zu bleiben, um nicht zu erfrieren.

Es fällt mir schwer einen klaren Gedanken zu fassen, dennoch frage ich mich in diesem Moment wie man bei so einem Wetter auf die Idee kommen kann, eine Wanderung zu veranstalten. Kennen die hier in Finnland keine Wetterberichte oder was? Auf einmal höre ich aus der Ferne eine immer lauter werdende Stimme. „Evelyn?" Ich kann mein Glück kaum fassen. Schemenhaft erkenne ich Samus breit gebaute Statur. „Ich bin hier!", schreie ich und winke heftig mit beiden Armen. Keine zwei Sekunden falle ich Samu erleichtert in die Arme und atme seinen angenehmen Duft ein. „Was machst du nur für Sachen?", murmelt er an meinem Ohr und löst sich aus meiner Umarmung. „Kannst du laufen? Wir müssen dich dringend zurück zur Schule bringen, du bist ganz unterkühlt." Ich schüttle müde mit dem Kopf. „Okay", seufzt Samu und nimmt mich hoch.

Auf einmal bin ich ihm wieder gefährlich nahe. Unsere Augen treffen sich und ich spüre Samus Herz an meiner Brust merklich schneller schlagen. „Danke, dass du mich gerettet hast Samu", hauche ich und lehne mich an seine starke Schulter. Er scheint sich wieder gesammelt zu haben, denn er erwidert kühl: „Für dich immer noch Herr Haber, wenn ich bitten darf." Ich für meinen Teil dachte, dass wir diese Grenze längst überschritten hätten. Doch scheinbar lag ich mit dieser Ansicht falsch. „Trotzdem haben Sie mich gerettet", flüstere ich leise. Samu kämpft sich mit mir weiter durch den endlos scheinenden Wald und presst verbissen die Lippen aufeinander. „Ich wäre dir echt dankbar, wenn du für den Rest des Weges still sein könntest.

Du bist schon schwer genug, da muss ich mir nicht noch zusätzlich deine Spinnereien anhören, Evelyn. Ich bin nicht dein Ritter auf dem weißen Pferd und werde das auch nie sein, kapiert?" Das saß. Eilig befreie ich mich aus seinem Griff. „Ich glaube ich kann doch selbst laufen." Ohne abzuwarten, ob Samu mir folgt oder nicht, gehe ich mit großen Schritten durch den Wald. Er hat mich verletzt und ich glaube, dass war genau seine Absicht.

TEACH ME / Samu Haber FF Where stories live. Discover now