S C H W Ä R M E R E I E N

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Evelyn

Die nächsten Tage sind von Chaos geprägt. Der Winter in Finnland zerrt an den Nerven aller, sodass es teilweise nicht möglich ist das Haus zu verlassen, weil es einfach zu gefährlich ist. Auch die Schule wird auf unbestimmte Zeit geschlossen, da es keinen Weg gibt, hinein zu gelangen und zudem die Heizungen den Geist aufgegeben haben. Es herrscht also Ausnahmezustand und aus einem bestimmten Grund kommt mir das nur gerade recht.

Das liegt zum einen daran, dass ich mich zum ersten mal heimisch fühle. Nicht weil ich in Gänze den kalten Winter Finnlands erleben darf, sondern weil ich nach langer Zeit endlich meine Familie ganz für mich beanspruchen kann. Normalerweise stellt die Arbeit meiner Eltern den unliebsamen Feind dar, den ich mit allen Mitteln versuche aus unserem Leben zu drängen. Das gelingt leider nur selten, weshalb ich Geborgenheit, Liebe und Zweisamkeit nur selten erfahre. Ich bin fast erwachsen und dennoch sehne ich mich mehr denn je nach diesen Dingen.

Womit wir auch schon beim nächsten Punkt wären. Natürlich bin ich heilfroh, dass ich zumindest Samu für diese Woche nicht mehr sehen muss. Mit Unbehagen blicke ich auf unser letztes Zusammentreffen zurück. Ich möchte nicht, dass mein Verhalten die Beziehung zu meinen Lehrern beeinflusst. Dennoch ist es schier unmöglich, nicht weiterhin über ihn nachzudenken. Nicht alles im Leben ist kontrollierbar. Gefühle kann man manchmal nicht einfach abschalten. Und meine Träume kann ich leider ebenfalls nicht ändern. Wenn ich tief in mein innerstes blicke, will ich das aber vermutlich auch gar nicht. Ich bin hin und hergerissen und frage mich, ob ich Samu in Zukunft lieber aus dem Weg gehen sollte.

Abrupt werde ich aus meinen düsteren Gedanken gerissen, als mein Handy lautstark klingelt. Ein lächeln stiehlt sich auf mein sonst so ernstes Gesicht, während ich den Anruf annehme.  „Lea, schön, dass du dich endlich meldest! Wird aber auch mal Zeit, ich muss dringend mit dir reden!" „Hey Evelyn", ertönt da die vertraute Stimme meiner besten Freundin aus Deutschland. Die Verbindung ist äußerst schlecht, was im Anbetracht des Wetters wohl kein Wunder ist, weswegen ich ein lautes rauschen in der Leitung vernehme.

„Wie läuft es bei dir? Hast du dich schon ein bisschen eingewöhnt? Wie läuft es mit den Jungs? Hast du schon jemanden im Blick?" Ich seufze in den Hörer. „Es ist nicht so leicht, wie du dir das vorstellst. Ich hatte keinen wirklich herzlichen Empfang, ganz im Gegenteil. Herzloser geht es kaum." Die Enttäuschung steigt erneut in mir auf, als ich an meinen ersten Schultag zurückdenke. Ich schniefe lautstark. „Ach Evelyn! Das kann sich doch alles noch ändern. Nach einem Tag solltest du noch keine voreiligen Schlüsse ziehen. Du bist doch meine hübsche, selbstbewusste und attraktive beste Freundin, wer kann dir schon widerstehen?"

Obwohl ich gerade wirklich am Ende meiner Kräfte bin, muss ich unter Tränen kurz schmunzeln. Ich vermisse Lea unglaublich und damit gleichzeitig auch mein Heimatland Deutschland. „Ich habe das Gefühl, dass nur die Lehrer mich mögen", erzähle ich deprimiert weiter. „Sie sind die einzigen, die nett zu mir sind. Und was das Thema Jungs angeht... Scheinbar stehe ich eher auf reifere Männer." Ich lege eine dramatische Kunstpause ein. „Was?!" Lea lacht am anderen Ende der Leitung. „Was genau willst du mir damit sagen?"

„Ich meine, dass ich mich scheinbar ein wenig in meinen Musiklehrer verguckt habe. Von Verliebtsein will ich nicht sprechen, weil ich ihn noch nicht allzu lange kenne und ihn aus dem Grund nicht richtig einschätzen kann.." Lea fällt mir ins Wort. „Dein Ernst? Nur weil du noch keine Freunde gefunden hast, musst du dich doch nicht an die Lehrer dranhängen! Ich verstehe, dass du ein wenig für ihn schwärmst, diese Phase macht doch fast jeder in seiner Schulzeit mal durch. Aber versteif dich nicht zu sehr darauf, diese Beziehung wird nie in der Realität stattfinden, so sehr du dir das vielleicht auch manchmal wünschst. Je eher du ihn vergisst, desto besser."

„So einfach ist das nicht. Ich spüre da etwas und das ist definitiv nicht einseitig. Ich kann es nicht definieren, aber es gleichzeitig ebenso wenig ausblenden. Kennst du das Gefühl nicht?", frage ich nun schon mehr oder weniger verzweifelt. „Doch selbstverständlich. Trotzdem glaube ich, dass du dir das nur einbildest. Vermutlich ist er nett zu seiner neuen Schülerin, dass ist vermutlich alles." Schnell berichte ich ihr, was Samu innerhalb eines Tages für mich und mit mir unternommen hat, um ihr deutlich zu machen, dass dies mehr als nur reine Hilfsbereitschaft ist.

„Jaa. Für mich zählt das alles unter kleine Nettigkeiten. Mich hat auch mal ein Lehrer nachhause gefahren. Ist doch kein Ding, solange es nicht zur Gewohnheit wird." Ich kann förmlich sehen, wie sie auf ihrem Bett sitzt und bereits genervt die Augen verdreht. „Hast du ein Bild von ihm? Ich muss schließlich sehen, ob sich diese Schwärmereien für ihn überhaupt lohnen." Das ist mal wieder typisch Lea. Das Aussehen hat bei ihr oberste Priorität, der Rest wird zunächst ignoriert. Das erklärt wohl auch, warum sie schon das eine oder andere mal auf einen sogenannten „Fuckboy" reingefallen ist.

„Warte kurz." Ich schnappe mir meinen Laptop und scrolle durch die Website meiner Schule. Über jeden meiner Lehrer gibt es eine kleine Biographie und ein professionelles Foto. Eilig suche ich unter dem Buchstaben „H" und werde auch sogleich fündig. Verklärt betrachte ich das Bild von Samu für einen Moment. Er trägt hier ein hellblaues Jeanshemd, was seine Augen noch mehr hervorstechen lässt und grinst mich fröhlich an. Seine blonden Haare liegen zum ersten mal am richtigen Fleck, was ihn unglaublich gepflegt und attraktiv erscheinen lässt. Er könnte wirklich für irgendwas werben. Er hat diese typische Modelausstrahlung.

„Evelyn, hast du's bald? Ich habe auch nicht ewig Zeit, ich treffe mich gleich noch mit den Mädels." Als sie unsere Clique erwähnt, versetzt es mir unwillkürlich einen kleinen Stich. Es ist irgendwie komisch zu hören, dass das Leben auch ohne mich weiter geht. „Okay, warte kurz." Ich sende ihr das Bild. „Oh, wow." Andächtige Stille. „Er ist nicht schlecht."
„Nicht schlecht?", entfährt es mir empört. „Na ja, er ist halt so der typische Sunnyboy. Aber gut, ich muss schon zugeben, dass ich deine Schwärmerei nachvollziehen kann." Kurze Stille, dann fügt sie hinzu: „Ich will dir ja nicht den Wind aus den Segeln nehmen, aber solche Typen sind entweder schwul oder haben eine Freundin."

„Raub mir doch nicht meine Illusionen", entgegne ich und nehme einen Schluck von meinem mittlerweile fast kalten Kakao. „Du hast ja recht, es ist tatsächlich meistens so." „Mach dir keine Sorgen Evelyn, so jemand wie du bleibt nie lange allein. Wir beide sind einfach Anziehungspunkte, weil wir gutes Aussehen und Charakter vereinen." Jetzt bin ich an der Reihe die Augen zu verdrehen. „Gib nicht so an."
„Aber es ist doch so." Im Hintergrund vernehme ich eine Türklingel. „Okay Süße, ich muss jetzt leider Schluss machen, die Mädels warten. Tu mir einen Gefallen und mach dir nicht so viele Gedanken. Du wirst schon noch sehen, in zwei Wochen berichtest du mir von deinem tollen, neuen Freundeskreis. Ich hab dich lieb!"

„Ich dich auch", murmle ich leise. „Machs gut und halt mich in nächster Zeit auf dem laufenden!" „Mach ich." Kurz darauf höre ich nur noch ein tuten und unterbreche ebenfalls die Verbindung. Das reden mit Lea hat gut getan und mir gezeigt, dass doch noch Hoffnung besteht und ich mich vermutlich wirklich erst noch einleben muss.

Während ich kurze Zeit später gemütlich mit meinen Eltern am Tisch sitze und wir uns gemeinsam über unsere neuen Erfahrungen in Job und Schule austauschen, überkommt mich erneut ein optimistisches Gefühl. Auch der immer noch andauernde Schneesturm kann meine Laune gerade nicht trüben. Im Gegenteil. Die fallenden Schneeflocken wirken beruhigend und helfen mir dabei ein wenig abzuschalten. Zumindest für diesen Augenblick.

TEACH ME / Samu Haber FF Where stories live. Discover now