36: Die dunkle Seite

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Lucas:

Seine Verhaltensweisen am Tag sind nichts gegen die nachts.
Er wälzt sich im Bett herum und wimmert vor sich hin, gibt schmerzerfüllte Töne von sich.

Ich weiß, er bildet sich ein, sein gesamter Körper stünde unter Flammen und weiß, dass es grausam ist, ihn unter kalten Entzug zu setzen, aber ich kann ihm einfach keine Drogen geben.
Und jetzt habe ich auch keine mehr, um es zu tun.

Etwa um 4 Uhr morgens nimmt das Ganze dann seinen Höhepunkt an.
Ich weiß, ab jetzt beginnt die schlimmste Zeit für etwa ein-zwei Tage, dann müsste es langsam besser werden.
Je mehr er trinkt und isst, desto schneller wird es gehen, aber er will nichts und kotzt alles aus, wenn ich ihn zwinge.

„Lu-lucas. B-bitte-e"
Seit Stunden sitze ich vor seinem Bett und höre mir an, wie er mich anfleht, bettelt, ihm nur ein kleines bisschen zu geben.
Aber ich kann nicht. Und ich will nicht.

Ich weiß, das zu behaupten ist unglaubwürdig, aber für mich ist das alles schlimmer als für ihn.
Er glaubt mir das natürlich nicht.

Ich krieche an seine Bettkante und nehme seine Hand.
Er ist kaltschweißig und zittert, obwohl ihm heiß ist.
Er reißt seine Hand diesmal nichts los, sondern drückt meine fester, während er mich verzweifelt ansieht. So schmerzgepeinigt.

„Bald wird es besser." Ich streiche ihm die verklebten Haare aus der Stirn. Nicht einmal diese haben noch die Kraft, sich zu locken.
„Ich bin da, Cassy. Ich weiß, du willst mich nicht hier haben und lieber Seth und die Drogen zurück, aber tief in deinem Inneren weißt du, dass du das alles nicht brauchst, wenn ich bei dir bin. Ich passe auf dich auf, ich beschütze dich. Den Schmerz, den du grade durchmachst, kann ich dir nicht abnehmen, aber ich stehe ihn mit dir durch. Zusammen schaffen wir das" Zum Abschluss küsse ich seine Stirn.

Es stört mich nicht, dass ihm der Schweiß in Perlen darauf steht oder dass er danach reicht. Ich wieß, dass es nicht wichtig ist.

„Wieso willst du mir helfen?" Es ist diese Frage, die beweist, dass es Hoffnung gibt, da er es nun endlich als Hilfe ansieht.
„Weil ich dich liebe. Mehr als alles andere auf der Welt. Wenn du wieder gesund bist, dann erzähle ich dir, wieso ich es dir nicht sagen wollte, okay? Aber bis dahin glaube mir einfach, dass ich es tue"
Cas umschließt meine Hand fester, macht die Augen zu und flüstert dann: „Sag es nochmal"
Ich muss lächeln. „Ich liebe dich"
Daraufhin lächelt er ebenfalls leicht, doch sofort sieht er wieder schmerzerfüllt aus.

Diese Nacht schläft keiner von uns.
Ich knie die ganze Zeit vor seinem Bett, halte seine Hände, während seine Muskeln zittern und er den ganzen Scheiß aus seinem Körper schwitzt.
Morgens lasse ich ihm dann ein Bad ein. Ich weiß, dass er nicht stehen kann, um zu duschen und begleite ihn in das Badezimmer.
Er lässt sich von mir ausziehen und steigt in die Wanne und lehnt sich zurück. Mit einem Waschlappen wasche ich seine Haut ab.

„Danke", murmelt er dann leise und schwach. Seine Augen sind geschlossen.
Ich weiß, wie anstrengend das für ihn ist und wie müde und ausgelaugt er ist. „Du musst dich nicht bedanken, Cassy"
Er liegt in der Wanne im Halbschlaf, während ich mich um seine Sauberkeit kümmere.

Dann lasse ich ihn in Ruhe entspannen, während ich sein Bett neu beziehe, da es schon ganz nass ist von dem ganzen Schweiß.
Als ich wieder zurückkomme, sitzt er auf dem zugeklappten Klodeckel und rubbelt sich die Haare trocken, hat die Klamotten schon an, die ich ihm hergerichtet habe.

Ich knie mich vor ihn und nehme seine Hand langsam.
Er hört auf und wirft das Handtuch in eine Ecke.
„Isst du bitte wenigstens eine Banane oder so?"
Er seufzt erschöpft. „Ich würde ja jetzt einen Schwulen-Witz reißen, aber ich hab keine Lust"
„Ich weiß, Cassy, ich weiß"

Es dauert nur eine Sekunde, bis sich die Situation verändert, er die Augen aufreißt und gleichzeitig den Klodeckel, bevor er reinkotzt. Die Prozedur von gestern wird wiederholt und anschließend lege ich ihn zurück ins Bett.

Er deckt sich zu, weil wir beide wissen, dass es etwas bringt, das alles auszuschwitzen, egal wie heiß ihm ist, denn so wird es schneller gehen.
Dann lasse ich ihn liegen, in der Hoffnung, dass er ein wenig schlafen kann und gehe runter, um etwas zu essen. Ich hoffe nur, er kotzt nicht sofort weiter, sonst kann ich gleich mitkotzen.

Kurz danach gehe ich zurück in sein Zimmer und der Schock bricht über mich herein.
Anscheinend habe ich eine Scherbe eines Tellers von gestern vergessen, denn Cas sitzt auf dem Boden und schneidet sich damit in den Arm.

Als ich Situation begreife, renne ich zu ihm und reiße ihm das Teil aus der Hand, während ich seine andere, die mit der Schnittwunde, nach oben halte.

„Wie konntest du das tun?", hauche ich geschockt.
An diesem Punkt waren wir noch nie. Er verletzt sich selbst? Ist es wirklich noch schlimmer, als ich es befürchte. Oder hatte er vielleicht andere Absichten?

„Irgendwie muss ich mich doch ablenken", faucht er mich an.
„Indem du dir die Pulsadern aufschlitzt? Hast du überhaupt eine Ahnung, was du da tust?" Ich zerre ihn auf die Beine und ins Badezimmer, um die Wunden auszuwaschen. Dass er dabei schmerzerfüllt zischt, ist mir egal.

Schließlich geht es weiter in die Küche, ich hole das Verbandszeug. Als Kind war ich oft genug hier, um zu wissen, wo sich das befindet.
Ich creme seinen Schnitt mit einer antiseptischen Salbe ein und wickele dann einen festen Verband darum, ohne ein weiteres Wort zu sagen.
Dafür, dass er den Drogen wieder verfallen ist, kann er nichts, das ist eher meine Schuld, aber diese Verletzung geht auf seine Kappe.
Wie kann man denn so verzweifelt sein, sich selbst wehzutun?

„Mach das nie wieder, hörst du?" Bedrohlich sehe ich ihn an. Hätte ihm jemand anderes wehgetan, wäre der schon längst fällig gewesen, aber ihn kann ich nicht schlagen.
„Lass mich doch in Ruhe!", faucht er und reißt sich los.
Er stürmt die Treppen hoch, ich ihm hinterher.
„Bleib stehen, Castor, ich bin noch nicht mit dir fertig!", fordere ich.

Es ist lächerlich, dass er jetzt wegrennt wie ein kleines Kind.

Er will mir vor der Nase die Tür zu seinem Zimmer zuschlagen, aber ich bin stärker als er vor allem in diesen Zustand und kann sie aufdrücken.

Aber er fängt an auf mich einzuschlagen. „Geh weg! Geh endlich Weg! Ich hasse dich! Ich hasse dich!" Dabei sieht er mir in die Augen.
Er meint es genauso, wie er es sagt, aber ich weiß, dass das nicht er selbst ist.
Das ist seine dunkle Seite, die aus ihm spricht, die Seite, die nach Drogen lechzt und bettelt und die weiß, dass ich das einzige bin, das zwischen Cas und dem weiteren Konsum steht.

Liebe ist auch nur eine Sucht (boyxboy)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt