Teil 44

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Nach einer weiteren halben Stunde hielt ich es nicht mehr aus. Ich zog meine Schuhe an und setzte seit Tagen wieder einen Fuß aus diesem Raum. Zügig lief ich den Gang entlang und verstaute das Morphium in meiner Jackentasche, sodass es nicht herausfallen konnte. An der Rezeption angekommen, sah ich die Frau an, die gerade mit einem alten Hörer telefonierte.
Sie lächelte mir zu und legte dann nach ein paar Sekunden auf: "Wie kann ich dir helfen, Liebes?"
Ich starrte auf die Blumen, die vor mir standen: "Ich suche meinen Freund, wir haben das Zimmer 34, aber er ist nicht zurückgekommen, eigentlich hatte er auch nicht vor zu gehen." Bei den letzten Worten brach meine Stimme.
"Zimmer 34?", wiederholte die Frau und sah mich mit aufgerissenen Augen an. Ich nickte und trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. "Oh Gott, oh Gott, oh Gott", sie sah mich an und wusste anscheinend nicht so recht, was sie sagen sollte.
"Was?", platzte es aus mir heraus.
"Hat dir keiner Bescheid gegeben?" Zögernd schüttelte ich den Kopf und stützte mich mit der Hand am Holz ab, weil ich jetzt Angst vor den nächsten Worten hatte: "Eigentlich solltest du schon längst informiert worden sein, tut mir leid. Hier waren gestern zwei Detektive, die nach dem Zimmer 34 gefragt haben und ob hier ein gewisser Jack Kont wohnt." Ich hatte das Gefühl, jemand würde mir die Kehle zuschnüren und mir die Luft zum Atmen rauben.
"Was?", quietschte ich mehr oder weniger.
Jetzt stand die Frau auf und kam zu mir herum: "Vielleicht sollten wir uns setzen, bevor wir weitersprechen."
"Was?", kreischte ich und spürte, dass sich die ersten Tränen ihren Weg nach unten bahnten.
"Ganz ruhig, es wird alles wieder gut", sie versuchte mich mit einer beruhigenden Berührung zu unterstützen, aber ich verstand die Welt nicht mehr, ich verstand dich nicht, Jack.
Die Frau führte mich zu einem kleinen Sofa, das gegenüber von der Rezeption stand.
"Wusstest du, dass dein Freund gesucht wurde?" Ich schüttelte den Kopf und konnte nicht aufhören zu schniefen; das war alles so surreal, als würde alles hinter einer großen, dicken Mauer stattfinden. "Jack Kont ist aus einer Psychiatrie geflohen, keiner weiß wie, aber sie haben ihn jetzt wieder. Er ist in guten Händen. Du hattest großes Glück, Mädchen, weißt du überhaupt, dass er ein mehrfacher Mörder ist?"

Alles verschwamm vor meinen Augen und ich sah trotzdem nur dich vor mir, Jack. Die Person, über die diese Frau sprach, bist du nicht. Ich kannte dich doch, du warst nie gefährlich. Du warst doch immer mein Idiot, mein Freund, der mir so viel anvertraut hat wie ich ihm.

Ich wusste nicht, woher ich die Kraft nahm, zu sprechen: "Mehrfach?"
Die Frau streichelte mir sachte über den Rücken: "Du bist in Sicherheit, er wird niemandem mehr wehtun." Ich hätte sie am liebsten angeschrien. Ich war verloren und du tatst mir genau jetzt weh, Jack, mit deiner Abwesenheit. Aus meiner Kehle drang nur Schluchzen und etliche Tränen veranstalteten ein Wettrennen auf meinen Wangen.
"Wo ist er?", wimmerte ich vor mich hin.
"Er wird zurück in die Psychiatrie gebracht, aus welcher er ausgebrochen ist, weil die Ärzte dort mit ihm vertraut sind." Ich wusste nicht wie, aber ich stand auf und meine Füße trieben mich vorwärts und ehe ich auch nur nachdenken konnte, rannte ich schon aus dem Hotel und die Frau mir hinterher. "Wo willst du hin?", rief sie mir nach, doch ich hörte sie, als wäre sie ganz weit weg. Mein einziger Gedanke war, dass ich zu dir musste, Jack. Und ich dachte nicht nach, ich handelte einfach. Ich lief den Schildern hinterher, die zum Bahnhof zeigten und rannte immer schneller. Ich hustete und die Tränen vermischten sich mit Angstschweiß, aber ich ignorierte den Schmerz und das Ziehen, das drohte mich nach unten zu zerren und beschleunigte mein Tempo noch mehr. Es war wie ein Rausch und ich überquerte die Straßen, ohne darauf zu achten, ob Autos fuhren. Selbst die Hupen der Fahrzeuge rissen mich nicht aus meiner Trance, der einzige Gedanke in mein Kopf warst du.

Ich erreichte den Bahnhof und rannte direkt zu einem Schalter zu und keuchte die Worte unter dem brennenden Atem: "Wie komme ich am schnellsten zur Lindenhof Psychiatrie?"
Der Mann sah an mir herab und tippte dann viel zu langsam auf seiner Maus herum: "Jetzt in 3 Minuten fährt ein Zug und dann wieder in zwei Stu-"
"Welches Gleis?", brüllte ich.
"Sie werden den Zug nicht mehr bekommen, junge Dame."
Ich schlug mit voller Wucht auf das kleine Brett vor mir: "Welches Gleis?"
"Vier", sagte er erschrocken und ich rannte schon wieder los. "Sie müssen doch erst ein Ticket kaufen!", schrie er, aber ich steuerte schon auf die Vier zu. Als ich den Bahngleis erreichte, wurde schon gepfiffen und ich drückte alle Menschen beiseite.
Die Türen des Zuges schlossen schon und mir schrie ein Aufpasser zu: "Zurückbleiben!" Die Worte prallten an mir ab und ich landete mit voller Wucht auf dem Boden und knallte mit dem Kopf gegen eine Stange. Es dröhnte in meinem Kopf und ich traute mich nicht, die Augen zu öffnen. Ich hörte die Geräusche des ICEs, der sich in Bewegung setzte und ich öffnete ein Auge, um zu sehen. Der Zug unter mir setzte sich in Bewegung und ich sah verwundert um mich. Mein Kopf war gegen die Stange, die zum Festhalten gedacht war, geknallt. Ungläubig fing ich jeden Winkel um mich auf und begann dann hysterisch zu lachen, ich war in den ICE gesprungen. Mit leichtem Ruckeln erhöhte der Zug die Geschwindigkeit und ich konnte einfach nicht aufhören zu lachen. Eigentlich hätte ich den Schmerz verspüren müssen, aber in diesem Moment war alles so weit weg und mich erfüllte einfach nur das Glück zu fahren, zu dir zu fahren.

Einsam fällt Sterben leichterWhere stories live. Discover now