Teil 35

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"Das wird schwierig", sagtest du und stelltest dich der Krankenschwester in den Weg.
Sie rümpfte nur die Nase: "Es war eine Notsituation, aber jetzt müssen wir Ihre Eltern verständigen."
"Das geht nicht, weil sie schon tot sind", sprachst du in einem eiskalten Ton und ich war erstaunt, wie gut du lügen konntest.
"Oh, das tut mir leid", stotterte die Frau sichtlich überfordert und sah zwischen uns hin und her.
"Kann ich Sie um etwas bitten, das mir nicht zusteht?", fragtest du sie.
"Was?", flüsterte sie nervös und ich warf dir einen fragenden Blick zu.
"Wir haben kein Geld und auch kein Zuhause mehr, nachdem unsere Eltern vor einem Monat bei einem Autounfall gestorben sind. Genauso wenig haben wir Papiere oder Ahnung von irgendwelchen Versicherungen und unsere Verwandten leben alle im Ausland und wir waren gerade lediglich auf dem Weg zu ihnen, weil sie von der ganzen Tragödie noch nichts mitbekommen haben und wir keinen Kontakt aufnehmen können", du holtest tief Luft, "und aus diesem Grund möchte ich Sie bitten, uns Morphium für den Weg auszuhändigen."

Ich war wie benebelt. Das hattest du nicht wirklich gesagt, oder? Ich glaube, mir ist die Kinnlade heruntergefallen, zumindest war mir danach zumute.

Die Krankenschwester wirkte komplett überfordert und starrte dich für einen Moment einfach nur an: "So leid mir das auch alles tut, aber wir können Ihnen nicht einfach so ein starkes Schmerzmittel mitgeben." Ich versuchte ruhig zu atmen, aber es gelang mir nicht.
"Sie brauchen sich keine Sorgen machen, es sind ja nur Sie, die uns die Tabletten geben. Wir werden danach sofort verschwinden und dann sieht es so aus, als hätten wir sie gestohlen."
Sie schüttelte den Kopf: "Ich würde Ihnen wirklich gerne helfen-"
"Dann tun Sie es, verdammt nochmal", deine Stimme klang schon fast flehend, "meine Schwester hat nicht mehr lange und sie vergeuden jede einzelne Minute von ihr, indem Sie uns hier aufhalten! Stellen Sie sich doch vor, Sie wären in meiner Lage, was würden Sie an meiner Stelle tun." Du bist lauter geworden und mir tat die Frau schon richtig leid, da sie komplett eingeschüchtert wirkte. Nach einer scheinbar endlosen Pause fügtest noch leise hinzu: "Bitte."

Eines musste man dir schon lassen, Jack. Du kanntest dich mit der Psyche anderer Menschen gut aus und hattest immer einen Plan. Ich wäre viel zu ängstlich, um sowas durchzuziehen, und dazu kommt noch, dass ich nie auf so eine Idee gekommen wäre. Du hattest auch nie Angst, oder? Ja, du hattest Angst um mich, aber so im Allgemeinen davon abgesehen, warst du immer für alles zu haben. All die Erlebnisse von uns beiden zogen vor meinem inneren Auge vorbei. Ich vermisste unsere Parkbank und ich sehnte mich danach, wieder irgendwo einzubrechen, wie in dem Schwimmbad damals. Wetten abschließen, obwohl ich genau wusste, dass ich verlieren würde. Und wenn ich gehe, würde ich unsere Gespräche vermissen, unser gemeinsames Lachen, deine Blicke, die Art wie du mich angesehen hast, als wäre ich der Mond unter tausend Sternen. Ich denke, ich werde sogar unser kindisches Getue vermissen, wie du mir die Kippen angezündet hast, wird mir fehlen. Ich werde mich nach dem Moment sehnen dich zu küssen und deinen Körper an meinem zu spüren und ich werde deine Stimme vermissen, die mir immer wieder zugeflüstert hat, wie sehr du mich doch liebst. Und letztendlich werde ich dich vermissen, Jack. Ich werde alles an dir vermissen, dein Aussehen, deine Art, deinen Charakter, einfach alles an dir.

Die Krankenschwester drückte dich beiseite und bahnte sich so einen Weg nach draußen, ohne etwas zu sagen. Du bisst die Zähne zusammen und schlosst die Augen, danach bewegtest du dich keinen Millimeter.
"Jack?", sprach ich kaum hörbar.
"Wir müssen von hier weg Elli, es tut mir leid."
"Dir muss gar nichts leidtun, geh einfach nicht, okay?", mir traten Tränen in die Augen und du kamst zu mir und machtest dich daran, die Infusion zu entfernen, als die Tür wieder geöffnet und schnell geschlossen wurde.
"Eine Packung, sie hält circa für 3-4 Tage, aber Ihre Schwester braucht komplette Ruhe, sie wird sehr müde sein und wahrscheinlich wenig Appetit haben. Sie haben das hier nicht von mir", sie drückte dir die etwa zigarettengroße Schachtel in die Hand und lächelte dann. "Ich hoffe das Beste für Sie beide."
Du sahst diese Frau an und fielst ihr dann um den Hals: "Danke, tausend Dank!"
"Ich muss jetzt hier weg, keiner darf wissen, dass ich nochmal hier war", sagte sie, nickte mir zu und verließ dann zügig den Raum.
Lächelnd hieltest du die Tabletten in die Höhe: "Du wirst mich wohl doch noch ein paar Tage lang an der Backe haben, Schwesterherz!"

Dich so zu sehen, machte mich gleichzeitig überglücklich und zu tiefst traurig, es war ein wildes Gefühlschaos und ich war schon lange nicht mehr Herrin davon. Doch dein Lächeln und deine Zuversicht gaben mir wieder Hoffnung, Hoffnung darauf, dass die letzten Tage doch gar nicht so schlimm sein würden.

Einsam fällt Sterben leichterWhere stories live. Discover now