Kapitel 5:

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Am Tag später – nach dem schrecklichen Einkaufen mit meiner Mutter – habe ich sie vergessen zu fragen, welche Schicht sie eigentlich hat. Als ich sie morgens nicht in ihrem Bett finde, wird meine Frage automatisch beantwortet. Als ich nach unten gehe, mir wie jeden Morgen Kaffee mache und in den Kühlschrank starre, um zu sehen, was ich für Mittag essen werde, entsinne ich mich an die Heimfahrt von gestern aus dem Einkaufszentrum. Nach diesem Vorfall in unserem ersten Geschäft war meine Mutter leiser. Die Verkäuferin, Jessica, war ganze Zeit still und starrte sogar noch auf meine Narbe, als ich meine normale Kleidung wieder anhatte, als würde sie sich genau vorstellen. Ich glaube, dass meine Mutter ab diesem Moment eingesehen hatte, dass diese Narben ihr und mich daran erinnern, was ich eigentlich mit meinem Leben tue, obwohl ich selbst nicht so recht weiß, ob ich das wirklich auch will, was ich tue. Man kann sich wohl sein Leben nicht wirklich aussuchen.

Nach dem Mittagessen gehe ich wieder nach oben und zum ersten Mal nach langer Zeit fällt mir wieder die Luke am Ende des Flures auf, die auf dem Dach ist. Die Luke führt zum Dachboden, wo ich als letzte Mal war, als ich elf Jahre alt war und das ist schon ziemlich lange her. Ich ging manchmal da hoch, weil ich dort in Ruhe entweder lesen konnte, oder ich meine alte Sache gerne wieder in die Hand nehme. Leider erinnere ich mich nicht mehr, wo ich die Leiter hingestellt habe, die nur der einzige Weg ist, um zum Dachboden zu gelangen. Als ich meine Gabe benutze, erblicke ich mein elf Jahre altes ich, wie ich von der Leiter herunterkletterte, die Leiter leise nahm und meine Mutter mich dann erwischte, dass ich unerlaubt auf dem Dachboden war. Sie riss mir die Leiter von den Händen und trug sie in die Garage, wo wir nie unser Auto hinstellten. Als ich wieder zu mir komme, schüttele ich den Kopf bei dem Gedanken, dass ich einfach zu faul bin, um sie richtig zu suchen, anstatt meine Gabe zu benutzen. Noch vor zwei Jahren hätte ich das nicht getan. Ich gehe in die Garage und finde die Leiter so, wie sie meine Mutter dorthin gestellt hat. Die Garage ist trotz, dass wir sie als Abstellkammer benutzen, leer, da kein Mann im Haus ist, der sich für so etwas interessiert. Nur einige Regale, mit leeren Marmeladengläsern und einige Werkzeugen, die wohl jeder im Haus hat, obwohl sie total mit Spinnennetzen umwebt sind. Ich versuche mit der Leiter nicht gegen die Wände zu stoßen und trage sie durch den Flur nach oben. Jetzt erinnere ich mich auch, dass die Leiter sonst immer neben der Luke stand, aber seit meine Mutter sie in die Garage brachte, ging nie wieder jemand da hoch. Als ich heil oben angekommen bin, stelle ich die Leiter auf ihren rechten Platz und klettere sie hoch. Als ich die Luke öffne, kippe sie nach innen auf die andere Seite und klettere langsam nach oben. Und das erste, was ich erblicke, ist nichts als Dunkelheit. Also suche ich nach dem Seil, das eine kleine schwache Glühlampe erleuchten lässt und finde sie etwas höher über mir. Als Licht in dem normalgroßen Dachboden kommt, erblicke ich mehrere Kartons auf einmal und einige Spielsachen aus meiner Kindheit, wie meinen alten Teddybär, den ich Felix nannte, weil meine Tante Doris mir einst ein Buch – zwar über einen Hasen – namens Felix zu meinem vierten Geburtstag geschenkt hatte. Ich ging in die Vergangenheit zurück, als ich den Teddy bereits nachts mit mir im Bett hatte und mit ihm sprach.

„Felix... Heute ist was Seltsames passiert. Kann sich deine Haut auch so ändern wie meine? Irgendwie seltsam... Mama weiß nichts davon. Soll ich es ihr sagen?... Du hast Recht, das bleibt unser Geheimnis."

Ich war erst vier, wie kann das denn bereits so früh passieren? Ich entsinne mir nur an den Vorfall, als ich acht und zwölf Jahre alt war, aber so früh noch nie. Seltsam, wirklich seltsam. Durch meine Gabe kann ich immer wieder auf den Moment zurückgehen, wo es wirklich passiert ist, aber irgendwas hält mich davon ab, als wolle jemand – und dieser jemand bin ich -, der diesen Moment lieber in Vergessenheit lassen soll. Ich stelle gerade fest, dass meine Gabe auch gutes heraufbeschwören kann. Wäre ich früher geboren, hätte ich vielleicht den elften September 2001 vorhergesehen und könnte alle Menschen im World Trade Center retten, ich könnte Osama Bin Laden finden und das innerhalb von Sekunden und ich könnte sogar Todesfälle aufklären, indem ich in die Vergangenheit der Opfer herumschnüffele und die Todesursache herausfinde. Aber da meine Gabe erst im Alter von siebzehn Jahren aufgetaucht und dafür alles zu spät ist, kann ich auch nichts ändern. Ich werde immer nervöser, drehe mich zu allen Seiten um, als wäre ich panisch auf der Flucht. In der Mitte des Raumes steht ein altes Sofa, das völlig grau von dem ganzen Staub ist. Dann erblicke ich hinter mir in der linken Ecke eine Wiege aus Holz, die mir gehörte. Ich gehe auf diese zu und lasse sie kurz schaukeln, doch das Quietschen geht mir auf die Nerven, also lege ich es still. In der anderen Ecke erblicke ich eine Kiste, in der ich mir schon denken kann, was für ein Zeug dort drin liegt. Als ich sie öffne, erblicke ich weitere Spielsachen aus meiner Kindheit, die für mich schon als längst vergessen scheinen, aber mit jedem Anblick die Erinnerung wieder hochkommt. Ich wühle etwas umher, werde neugieriger auf die alten Sachen, die sogar meiner Mutter gehörten, zum Beispiel noch alte Schuhe aus den 80er, so dicke schwarze Stiefel, wo die Zehen rausgucken und einen dicken Absatz haben. Als ich weiter rumwühle, erblicke ich eine kleine Box ganz unten in der Kiste und nehme diese heraus. Als ich diese öffne, erblicke ich nur ein einziger Umschlag, der wie neu aussieht. Offensichtlich wurde er nur einmal geöffnet und dann wieder verschlossen. Keine Adresse, keinen Namen. Nur an wen den Brief gesendet wurde, steht drauf: Ava Nelson. Die Schrift ist mir unbekannt und ich finde sie ziemlich hübsch. Sie ist in Schreibschrift, vor allem das G sieht so aus, wie eine schöne Computerschrift, als wäre sie ausgedruckt worden. Ich gehe zur Glühlampe, die über der Luke herabhängt und kauere mich, wie immer, wenn ich nervös werde, vor dem Sofa zusammen und halte dabei den Brief ins Licht. Als ich den sauberen Umschlag öffne und das gesunde Blatt herausziehe, wundert es mich nicht, dass das Blatt nicht voller Staub ist, als wäre es vor kurzem nochmal geöffnet worden.

Meine geliebte Ava,Ich habe niemals gedacht, dass ich jemals zur Menschenwelt gelange und mich dort in die Natur, in das Leben und auch in dich verliebe

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Meine geliebte Ava,
Ich habe niemals gedacht, dass ich jemals zur Menschenwelt gelange und mich dort in die Natur, in das Leben und auch in dich verliebe. Die Jahre, die wir gemeinsam verbracht haben, haben mein Leben wieder mit Sinn und Stolz erfüllt. Es tut mir immer noch leid, dass ich meinen wahren Namen dir vorenthalten habe und ich hoffe, dass du mir verzeihst. Ich kenne unsere Tochter erst seit wenigen Tagen, aber ich liebe sie so sehr, dass es kaum zu beschreiben ist. Ich hoffe ihr geht es gut, unserer kleinen Freya. Ich will, dass du dich um sie sorgst, so lange ich weg bin. Wenn sie älter ist, wird sie es verstehen müssen, wieso sie so außergewöhnlich ist, wieso sie vielleicht eine Gabe hat. Ein Halbgott wird sie werden und bei dir ist sie in den richtigen Händen, das weiß ich. Ich wünsche, ich könnte sie noch einmal in den Armen halten, doch in Asgard herrschen dunkele Zeiten. Ich habe dir doch von meiner wahren Herkunft erzählt, Jotunheim. Ein Krieg eskaliert zwischen den zwei Welten und ich werde gebraucht. Wenn ich zurückkomme, so verspreche ich dir, dass ich niemals wieder in den Krieg ziehen werde und dich niemals den Gefahren alleine aussetzen werde. Mögen alle guten Götter dieser Welten euch beide schützen.
Dies wird mein erster und mein letzter Brief an dich sein.
Njörn, für Freya immer noch „Leon"

Ich lasse den Brief aus meiner Hand fallen, denn ich will ihn auf keinen Fall zerstören. Irgendein Gefühl von Schmerz macht sich in mir breit und augenblicklich fängt mein Herz an zu schmerzen. Dann verlassen die ersten Tränen meine Augen und ich beginne wie ein Kleinkind an zu weinen. Ich versuche den Brief während meinem Geheule nicht nass zu machen und ihn vorsichtig in den Umschlag zu lege. Es ist das wohl wichtigste, was ich und meine Mutter von ihm haben und was mir von ihm bleibt. Die Worte, die an meine Mutter gefasst sind, bringen mich zwar einige Male zu lächeln. Auch, dass er gesagt hat, dass er mich seit wenigen Tagen kennt und mich so sehr liebt, kann ich nicht abstreiten, dass ich die glücklichste Tochter auf der ganzen Welt bin, aber dass mir meine Mutter diesen Brief vorenthalten hat, finde ich einfach entsetzlich. Und dass er am Ende geschrieben hat, dass sein Name Leon bleibt, bis ich ihn selbst herausfinde, macht mich wütend. Aber auf einer anderen Seite kann ich meine Mutter sehr gut verstehen. Sie hat nur das getan, was mein Vater von ihr verlangt hatte. Da er niemals zurückgekommen ist und sie mit einem Neugeborenem alleine ließ, hatte sie sich tapfer geschlagen einen Halbgott groß zu ziehen. Jetzt bin ich nicht länger wütend, sondern einfach nur noch traurig, dass ich niemals die Chance hatte meinen Vater kennenzulernen.

Freya: Age of UltronWhere stories live. Discover now