Kapitel 4:

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Ich schlafe versehentlich schon um 21 Uhr ein und werde am nächsten Morgen um zehn von einer zornigen Sonne geweckt. Ein dürrer Baum raschelt mit den Zweigen an meinem Fenster, als will er hereinklettern und mich trösten. Ich ziehe meine Normalklamotten – enge Jeanshose, ein rot kariertes Stoffhemd und Turnschuhe – an und gehe nach unten. Meine Mutter schläft noch, also mache ich mir einen Kaffee, nehme die Tageszeitung aus dem Briefkasten und lese mir die Sachen durch, die mich interessieren. Als meine Mutter nach wenigen Minuten herunterkommt, reibt sie sich ihre Augen, begrüßt mich nicht und macht sich ebenfalls einen Kaffee. Das Szenario lässt es fast so aussehen, als wären wir zwei alte Freunde, die sich eine WG teilen.

„Ich wollte etwas außerhalb von Cooperstown in dieses Einkaufszentrum gehen, das erst seit wenigen Wochen geöffnet hat. Ich habe gehört, dort sind hübsche Kleider und gute Restaurants."

„Gut."

„Ja, gut. Denn du fährst."

Sie weiß, dass ich es hasse, wenn ich fahre und sie direkt neben mir sitzt. Sie beobachtet jeder meiner Bewegungen und kritisiert etwas, sobald ich etwas angeblich falsch mache. Nach dem Mittagessen fahren wir auch sofort los und die Fahrt dauert keine halbe Stunde. Als ich im Parkhaus des Einkaufszentrums parke, schreiten wir ohne Worte in das Einkaufszentrum. Cooperstown ist eher der Kleinladen Typ, in denen es kein Einkaufszentrum gibt, aber seit dieses hier geöffnet ist, bin ich mir sicher, dass das Einkaufszentrum von Washington dreimal so groß ist, wie dieses. Ich halte meiner Mutter die Tür zur einer Boutique offen, und das feminine Glöckchen mischt sich mit dem erfreuten Gruße einer Verkäuferin.

„Ava!"

„Jessica? Seit wann arbeitest du denn hier? Nicht mehr in der Fabrik?"

„Nein, seit die Dreckskerle kein Krankengeld mehr zahlten, habe ich gekündigt.", lächelt sie und runzelt dann die Stirn. „Ist das...?"

„Meine Tochter Freya."

Jessica schaut erst wieder zu meiner Mutter, dann lächelt sie mich an und weiß sofort, wem sie gegenübersteht.

„Freya?" Sie fängt sich rasch. „Ach, ich hatte ja von ihnen gehört. Sie waren in den letzten zwei Jahren oft in den Nachrichten. Aber seit man nichts mehr von ihnen hört, habe ich Sie glatt vergessen. Sie kommt sicher auf ihren Vater." Sie mustert mich, als wäre ich ein Pferd auf einer Auktion. „Sie sieht ihnen zwar auch ähnlich, aber die helle Augenfarbe hat sie bestimmt von ihrem Vater und..."

„Ja, auch die Haarfarbe und die Wangenknochen. Und seinen Charakter.", lächelt meine Mutter sie und dann mich an.

So viel hat meine Mutter noch nie über meinen Vater verraten. Ich frage mich, was anderen Verkäuferinnen noch so alles über ihn wissen. Es wundert mich außerdem, dass meine Mutter Jessica niemals erwähnt hat. Die letzte beste Freundin meiner Mutter zog vor etwa sieben Jahren nach Miami um und seitdem ist ihr Freundeskreis einsam – habe ich jedenfalls gedacht. Im Geiste sehe ich meine Mutter mit sämtlichen Verkäuferinnen im nördlichen Cooperstown plaudern und so ein verschwommenes Profil des Mannes zusammensetzen. Meine Mutter streichelt mir mit gazeweichen Händen den Kopf.

„Ich möchte gerne ein Kleid für meinen Schatz kaufen. Etwas Buntes. Sie neigt immer zu Schwarz und Grau. Größe 38/40."

Jessica ist so dünn, dass sich ihre Hüftknochen unter der Kleidung vorwölben, huscht zwischen den Rundständern umher und pflückt einen Strauß ausleuchtend grünen, blauen und rosa Kleidern hervor.

„Das würde ihr wunderbar stehen.", sagt sie und hält meiner Mutter das rosa hin.

Ein Kleid ist das Letzte, was ich in meinem Kleiderschrank sehen will. Ich trage nie Kleider, selbst als ich klein war. Und wenn ich eins hatte, trug ich es nie, sondern versteckte es, sodass meine Mutter es niemals findet und mir aufträgt es anzuziehen. Jessica verschwindet hinter weiteren Kleiderständern, währendem ich meiner Mutter folge und mich einfach nicht vor Neugier bremsen kann.

„Erinnere ich dich wirklich an meinen Vater?" Ich spüre, wie meine Wangen angesichts dieser vermessenen Frage ganz heiß wird.

„Mir war klar, dass du darauf zurückkommen würdest." Sie dreht sich zu mir um und lächelt mich an. „Er sieht dir in so vielen Sachen ähnlich. Seinen Kampfgeist, seinen Mut. Den hast du ebenfalls von ihm."

Ich lächele sie dankend an, dass sie mir plötzlich so viel von ihm erzählt. Sonst hasst sie es wie gewöhnlich, wenn ich etwas über ihn frage und ignoriert es meistens, aber das war vor meinem siebzehnten Geburtstag, als ich herausfand, dass ich ein Halbgott bin.

Jessica wankt mit einer ganzen Auswahl Kleider herbei. „Das hier müssen Sie einfach haben.", sagt sie und präsentiert ein türkisfarbenes Sommerkleid. Schulterfrei.

Ich will absagen, ich will gehen, denn Schulterfreie Kleider sind noch schlimmer, als normale Kleider.

„Nur zu, Freya, zeig uns, wie hübsch du aussehen kannst.", lächelt meine Mutter.

„Obwohl so sieht sie auch ziemlich hübsch aus. Ich denke, sie ist eher der Typ, bei dem alles passt.", fügt Jessica hinzu.

Schweigend dirigiert meine Mutter mich in die Umkleidekabine. In dem kleinen verspiegelten Raum betrachte ich die Auswahl, während meine Mutter draußen auf dem Stuhl hockt. Schulterfrei, Spaghettiträger, angeschnittene Ärmel. Meine Mutter will mich bestrafen, obwohl sie meine Narben noch nie gesehen hat. Sie weiß zwar, dass ich dreimal angeschossen wurde, aber die Wunden hat sie sowieso nicht zu Gesicht bekommen, genauso wenig wie die entstehenden Narben. Ich entdecke ein rosa Kleid mit Dreiviertel-Ärmeln, streife die Hose und das Hemd ab und ziehe es rasch über. Der Ausschnitt ist tiefer und runder, als ich gedacht habe. Die Narbe an meiner Schulter kommt etwas zum Vorscheinen und ich ziehe das Kleid sofort aus.

„Alles in Ordnung, Freya?"

„Ein Moment noch."

„Zieh das mit dem Spaghettiträger an, bitte. Es sieht bestimmt ziemlich hübsch aus."

Oh nein. Ich ziehe es an und die Farbe mag ich zwar. Es ist ein helles gelb, als stünde ich im Sonnenschein. Die Narbe an der anderen Schulter macht sich diesmal sichtbar und es sieht einfach nur hässlich aus, als hätte Bucky mit seinem Messer noch in mein Fleisch herumgedreht. Als ich bemerke, wie kurz das Kleid eigentlich ist, erblicke ich unter meinem Gesäß am hinteren Unterbein im Spiegel die noch größere Narbe. In diesem Moment könnte ich dem Winter Soldier eine reinhauen.

„Lass mal sehen, Freya."

„Nein, das geht nicht."

„Lass sehen."

„Ich versuche ein anderes." Ich wühle in den Kleidern. Alle gleich enthüllend. Ich entdecke mich im Spiegel. Entsetzlich.

„Mach die Tür auf, Freya."

„Was hat sie denn?", höre ich Jessica dazwischen.

„Es geht einfach nicht."

Der Reißverschluss an der Seite klemmt. Auf der Schulter flammt die Narbe erneut in einer tief rosa Farbe auf.

„Freya!", zischt meine Mutter jetzt etwas genervt. „Freya!"

„Mom, du hast die Kleider doch gesehen, du weißt, dass ich sowas nicht gerne trage und vor allem auch wieso."

„Zeig es mir einfach." Ich spüre jetzt ein Lächeln in ihrer Stimme. „Freya..."

„Na schön."

Ich stoße die Tür auf. Meine Mutter, das Gesicht auf einer Höhe meines Kopfes, zuckt zusammen.

„Oh, mein Gott."

Ich spüre ihren Atem auf meiner Haut, als sie die große hässliche Narbe erblickt. Sie hebt die Hand, als wolle sie sie berühren, lässt sie aber wieder sinken. Hinter ihr steht Jessica, die schockierend auf die Narbe starrt.

„Wann ist das denn passiert, Freya?"

Ich starre beiden vorwurfsvoll an. „In Washington... Vor vier Monaten."

Meine Mutter senkt ihren Blick. „Hätte ich mir denken können."

Ich schlage die Tür zu, und reiße am Kleid, dessen Reißverschluss noch immer klemmt. Die Zähne geben meinem wütenden Zerren so weit nach, dass ich das Kleid bis zu den Hüften herunterschieben kann. Ich wende mich heraus, der Reißverschluss hinterlässt eine Spur aus rosigen Kratzern auf meiner Haut. Ich presse mir den Stoff vor den Mund und schreie.

Freya: Age of UltronWo Geschichten leben. Entdecke jetzt