5. Mein großer Bruder, der Held

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Wir zucken kollektiv zusammen und drehen uns instinktiv in Richtung des Geschreis.

"Siehst du das? Ach du meine Güte! Da ist ein Teil vom Klettergerüst eingebrochen, und es sieht so aus, als ob ein Kind oben feststecken würde." Das Mädchen reckt ihren Hals, um besser sehen zu können. "Sieht so aus, als ob niemand zu dem Kleinen hochkommen würde."

Mittlerweile sind einzelne Rufe nach "Um Himmels Willen", "Hilfe" und "Feuerwehr" zu hören, während das Kind auf dem Klettergerüst unüberhörbar zum Gotterbarmen schreit. Immer mehr Menschen versammeln sich auf dem Spielplatz, nur um dann hilflos nach oben zu schauen und sich gegenseitig mit nutzlosen Tipps zu überbieten.

"Jemand muss doch etwas tun! Jemand muss helfen!" Das Mädchen wippt mittlerweile auf den Fußballen, anscheinend hin- und hergerissen zwischen dem dringenden Wunsch zu helfen und der fehlenden Möglichkeit dazu.

~Verdammt, von meinem Buggy aus kann ich gar nichts sehen! Clark, heb mich mal hoch!~

Doch Clark reagiert nicht. Stattdessen scheint eine schon fast unheimliche Wandlung in ihm vorzugehen: Wo eben noch ein unsicherer Teenager stand, steht jetzt plötzlich ein Mann der Tat, bereit für den Absprung.

Kurz scheint er zu überlegen. Dann kommt er in Bewegung. "Kannst du bitte schnell auf meine kleine Schwester aufpassen. Ich muss ... mal wohin."

Das Mädchen schaut ihn etwas irritiert an, und auch ich kann mir nicht helfen, meine Augenbraue fragend zu heben. ~Clark, echt jetzt? Das klingt, als müsstest du auf Toilette!~

Offensichtlich reagiert das Mädchen ihm nicht schnell genug, denn mittlerweile ist es Clark, der ungeduldig auf den Fußballen wippt und ein "Bitte, es ist echt dringend!" hinterher schiebt.

~Na super, jetzt denkt sie, du hättest Durchfall!~

"Na wenn du meinst. Ich hab aber wirklich wenig Erfahrung mit ...", weiter kommt sie nicht, als Clark sie auch schon mit "Danke, du hast was gut bei mir" unterbricht und im Laufschritt Richtung Tribüne rennt.

"Tja", macht das Mädchen und schaut mich eher unschlüssig an. ~Tja~, erwidere ich und schaue genauso skeptisch zurück. "Und was machen wir jetzt, bis dein Bruder zurückkommt?"

Gute Frage. So ganz kann ich es noch nicht glauben, dass mein Bruder mich hier mit einer so-gut-wie-Fremden zurückgelassen hat. Ich meine, sie scheint ja ganz nett, aber sie könnte auch eine irre Axtmörderin sein.

Jaa, auch Frauen können Serienkillerinnen sein. Gleichberechtigung und so.

Das Mädchen, dessen Namen ich immer noch nicht weiß, scheint mittlerweile eine Entscheidung getroffen zu haben. "Komm mit, von hier aus sieht man fast gar nichts. Vielleicht können wir ja von weiter vorne irgendwie helfen", sagt sie und schiebt meinen Buggy Richtung Spielplatz. Immerhin, dann kann ich das Geschehen besser beobachten. Katastrophentourismus lässt grüßen.

Das Geschrei vom Spielplatz hat mittlerweile ein neues Level erreicht, und Rufe von "Oh Gott, das Klettergerüst bricht gleich zusammen!" gehen durch die Menge. Aus der Ferne sind Sirenen zu hören, die langsam näher kommen. Jemand scheint tatsächlich die Feuerwehr gerufen zu haben.

"Sie schaffen es nicht mehr rechtzeitig, das Gerüst kann jeden Moment zusammenbrechen!" Wer auch immer das gerufen hat.

Auf einmal geht ein Raunen durch die Menge, die für einen Wochentag in einer Kleinstadt auf eine beachtliche Größe angewachsen ist. Irgendjemand hebt den Arm, deutet auf etwas, andere folgen der Bewegung.

Und tatsächlich, gegen das Blau des Himmels zeichnet sich ein schnell größer werdender, dunkler Fleck ab, der rasend schnell näher kommt und auf das Klettergerüst zusteuert.

"Candy Boy!" Der Ruf erfasst die Menge, greift um sich, immer mehr Menschen beginnen zu rufen und zu klatschen, ihn auf den letzten Metern anzufeuern. Dann ein kollektives Luftanhalten, als das Klettergerüst sich bedrohlich zur Seite neigt, noch einmal kurz ins Stocken kommt und dann unaufhaltsam beginnt, langsam aber sicher in sich zusammenzubrechen.

"Hat er ihn? Hat er ihn rechtzeitig erreicht? Ich sehe nichts!" Das umgestürzte Klettergerüst hat eine Menge Staub aufgewirbelt, für einen Moment ist nichts mehr vom Geschehen zu erkennen. Die Menschen halten den Atem an, ich mit ihnen.

~Geht es ihm gut? Geht es meinem Bruder gut? Warum sagt mir denn keiner was?~ Die Ungewissheit bringt mich fast um den Verstand, meine Unterlippe bebt und die ersten Tränen beginnen zu fließen.

"Huch, was ist denn mit dir los? Ach, Kleine, nicht weinen! Allen geht es gut, siehst du? Candy Boy hat ihn noch rechtzeitig erreicht!", versucht mich das Mädchen zu trösten.

Und tatsächlich: Da schwebt mein Bruder in seinem schlecht sitzenden Jogginganzug, mit einem zappelnden Kind im Arm, und hat offensichtlich große Schwierigkeiten, das Kind festzuhalten. Sein Tischtuch, äh, Superheldenumhang behindert ihn dabei noch zusätzlich, weil sich die Beine des Jungen darin verheddert haben.

Doch, wenn ich mich so umschaue, scheint diese Tatsache außer mir niemandem aufzufallen. Alle anderen haben rosarote Sternchen in den Augen, sehen einen Retter, einen Helden. Auch das Mädchen neben mir himmelt Candy Boy an, ein verzücktes Lächeln im Gesicht.

Wenn ich das so sehe, kann ich nicht anders, als auch ein bisschen stolz auf ihn zu sein. Mein großer Bruder hat gerade ein Kind gerettet.

Mein großer Bruder, ein Held.

Der setzt gerade eben jenes Kind auf dem Boden ab, nickt dessen Mutter kurz zu, die ihm offensichtlich noch viel ausgiebiger danken möchte, und schwingt sich dann wieder in die Lüfte. Die Menge jubelt, Abschiedsworte werden gerufen und gezückte Handys zum Fotografieren geschwungen.

Leicht fassungslos schaue ich dabei zu, wie Clarks Umriss immer kleiner wird und schließlich in der Ferne verschwindet.

Hat er mich etwa vergessen?



(861 Wörter)

Call me Super, Baby!Where stories live. Discover now