2. Eine fast vollkommen normale Familie

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Meine Mutter hat es mittlerweile zumindest vorübergehend aufgegeben, mir Brei in den Rachen schieben zu wollen. Daher nutze ich meine freie Zeit und sehe meinen Brüdern dabei zu, wie sie ihre Heldentaten der vergangenen Nächte diskutieren. Die lebhaften Beschreibungen werden dabei noch von wild gestikulierenden Händen und fliegenden Fruit Loops untermalt.

Die drei sind in unserer Stadt wohlbekannt -- zumindest unter ihren Pseudonymen.

Clark nennt sich nachts Candy Boy und sieht in seinem rot-blauen Anzug mit dem roten Umhang wohl ziemlich fesch aus. Sagen zumindest seine Fangirls und auch -boys aus dem "Candy Boy"-Fanclub, der sich vergangenen Monat gegründet hat.

Tatsächlich hat Clark einen alten Jogginganzug auf dem Speicher gefunden, zweckentfremdet und mit wenig handwerklichem Geschick so geändert, dass er ihm einigermaßen passt. Und als Umhang dient ein altes, rotes Tischtuch. Lustigerweise ist noch nie jemandem sein schäbiges Outfit aufgefallen; die Leute scheinen immer Sternchen in die Augen zu kriegen, wenn Candy Boy seinen Auftritt hat.

Candy Boy gilt als geheimnisvoll und verschwiegen, taucht immer nur kurz auf und ist direkt danach wieder verschwunden, ohne mit den Menschen vor Ort mehr als das Notwendigste zu interagieren. Zum Leidwesen seiner Fans ist Clark sehr kamerascheu, so dass es kaum Fotos von ihm gibt -- was die wenigen, sehr verwaschenen und unscharfen Exemplare zu wahren Sammlerstücken macht und noch weiter zu seinem mysteriösen Image beiträgt.

In Wirklichkeit ist Clark sehr schüchtern und traut sich kaum, vor anderen Menschen zu sprechen. Das Ganze hat sich noch deutlich verschlimmert, seit er in den Stimmbruch gekommen ist. Das plötzliche Kieksen beim Sprechen ist ihm endlos peinlich.

Neben dem Fliegen hat Clark noch eine weitere Superkraft: seinen Laserblick. Den nutzt er unterwegs, um zum Beispiel Hindernisse einfach aus dem Weg zu brutzeln. Daheim soll es schon vorgekommen sein, dass er Mamas leicht kalte und angematschte Pommes aufgepeppt und mit etwas mehr Krossheit versehen hat -- natürlich erst, als Mama gerade nicht mehr im Raum war.

Die Zwillinge gleichen sich äußerlich wie ein Ei dem anderen, sind sonst aber grundverschieden.  Beide blonde Wuschelhaare, die dringend mal wieder geschnitten gehören, graue Augen, und noch leichte Reste von Babyspeck auf den Hüften. 

Bruce sorgt im hellblauen Kostüm als The Cool Kid für Furore -- auch wenn außer seinen Superkräften nichts wirklich kühl an ihm ist. Bruce ist sehr temperamentvoll und kann schon mal unüberlegt handeln, wenn er wütend ist. Er kann Wasser allein mit seinem Willen steuern und außerdem mit seinem Atem alles zu Eis erstarren lassen. 

Im Gegensatz zu Clark ist er überhaupt nicht publikumsscheu, sondern unterhält sich und den Rest der Welt in ruhigen Nächten gerne mal damit, über dem Brunnen im Stadtpark die tollsten Figuren und Landschaften entstehen zu lassen. Egal, wer ihm dabei zusieht. Die Zeitungen sind voll von Bildern von ihm und seinen Skulpturen, auch wenn ihn dank des Kostüms niemand erkennt.

Peter ist der Vernünftigere der Zwillinge und behält meist einen kühlen Kopf. Den braucht er auch häufig, um seinem Zwilling aus irgendeiner Patsche zu helfen, in die der sich mal wieder mit einer impulsiven Aktion gebracht hat.

Als Human Tornado kann er sich mit Lichtgeschwindigkeit bewegen, dabei eine Menge Wind verursachen und, manchmal ein sehr praktisches Gimmick, ohne Schwierigkeiten auch durch dicke Stahlwände sehen.

Woher sie das wohl alles können? Nachdenklich beobachte ich meine Mutter, die mittlerweile mit dem Löffel in der Hand auf ihrem Stuhl eingeschlafen ist und sich dabei unbemerkt Brei übers Shirt gekleckert hat.

Keine Ahnung, was meine Mutter sonst so macht, ich weiß nur, dass sie ihren eigentlichen Beruf gerade pausiert, um daheim bei mir zu sein. Elternzeit, hat sie es genannt. Doof, müsste es nicht eigentlich Kinderzeit heißen?

Und mein Vater? Der ist selten zuhause. Mama sagt immer, er müsse "nur noch schnell die Welt retten." Weiß nicht, was er macht. Vielleicht ist er bei Ärzte ohne Grenzen. Oder bei der Bankenaufsicht.

Meine Brüder jedenfalls haben vor einiger Zeit angefangen, heimlich nachts die Stadt zu retten. Und weil sie meinen, Mama könnte vielleicht etwas dagegen haben, halten sie es auch vor ihr geheim. Dass ich ihre "heimlichen" Gespräche durchaus verstehen kann, scheinen sie nicht ganz zu checken. Zumindest nehmen sie mir gegenüber kein Blatt vor den Mund.

Sie haben mal irgendwas erzählt von wegen "Ein Superheld hat immer Feinde, deshalb muss seine Identität geheim bleiben", aber ich glaube, sie haben einfach nur Bammel vor Mama. Ihr Strenger-Mutter-Blick ist wirklich zum Fürchten.

Ich weiß überhaupt nicht, wie sie auf die Idee kommen, Mama könnte ihre nächtlichen Ausflüge vielleicht verhindern wollen. Clark ist immerhin schon dreizehn Jahre alt und damit schon fast erwachsen, und die Zwillinge sind auch schon fast elf.

Meine Mutter hat neulich gewitzelt, dass Elf die erste Schnapszahl sei, und Schnaps darf man doch erst als Erwachsener trinken. Also ist fast Elf doch auch schon fast erwachsen, oder?


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Call me Super, Baby!Where stories live. Discover now