13. Kapitel

255 15 0
                                        

Ich lag im Bett, konnte aber nicht schlafen, weil mein Bein schmerzte. Ich bereute es inzwischen sehr, dass ich mich nicht an die Vorschriften von Doktor Brown gehalten hatte, die er mir bei einer Nachuntersuchung gegeben hatte, sondern Melody herumgetragen hatte. Mein eigenes Gewicht war laut ihm schon genug Belastung, obwohl das gar nicht so viel war. Die zusätzliche ein bisschen schiefe Körperlage, die durch das Tragen des Babys verursacht wurde, wäre im Moment sehr schlecht für mein Bein, meinte er. Noch eine Tablette mit Schmerzmittel durfte ich aber nicht nehmen. Dafür wog ich zu wenig. War ja typisch.

Also stand ich auf und schlurfte zum Tisch, der in meinem Zimmer am Fenster stand. Darauf lag ein geblümtes Tischtuch mit gehäkelter Spitze, das – wie mir Alice verraten hatte – Mikes Großmutter gemacht hatte. (Auch die Vorhänge der Fenster und der Tür, die auf einen kleinen Balkon führten, waren von ihr aus diesem Stoff genäht worden.) Auf dem Tisch standen außerdem mein Laptop, ein Schreibheft und ein Notenheft mitsamt Stiften und Radiergummi.

Ich steckte den Laptop aus und nahm ihn zu meinem Bett mit. Dort schaltete ich ihn ein und schaute Harry Potter und die Heiligtümer des Todes Teil 1 und 2. Weil ich danach so hundemüde war, schaffte ich es trotz der Schmerzen einzuschlafen.

Am nächsten Tag musste Alice nicht arbeiten und trug mir deshalb auf, mein Bein zu schonen.

„Mike und ich müssen heute Abend auf die Verlobungsfeier von Mikes bestem Freund. Ist das okay für dich?", erkundigte sich meine Hostmutter.

„Ja, sicher!", erwiderte ich überrascht. Ich hatte mir nicht gedacht, dass sie mich dafür um Erlaubnis fragen würden.

„Wir werden dann aber über Nacht dortbleiben ..."

„Das ist schon okay! Ich kann ja einfach Melodys Bett in mein Zimmer stellen, dann höre ich sie, wenn sie aufwacht.", versicherte ich ihr lächelnd.

Da draußen die Sonne schien, nahm ich mir ein Buch und legte mich im Schatten einer Buche in die Wiese. Neben mir schlief Melody auf einer Decke. Es war besser als jeder Film, sie dabei zu beobachten. Im Traum flatterten ihre Augenlider, sie strampelte und bewegte ihre Arme, als würde sie ein Orchester dirigieren. Außerdem zuckte ihr süßer kleiner Mund. Mehrmals gab sie auch Brabbeln von sich.

Nach einer Weile wandte ich mich dann doch meinem Buch zu, das ich mir gekauft hatte, nachdem ich aus dem Krankenhaus entlassen worden war. Es hieß Starcrossed und war der erste Band einer Trilogie, eine Art moderne Nacherzählung des trojanischen Krieges.

Durch das Geräusch eines näherkommenden Autos wurde ich geweckt. Die Sonne war weitergewandert, sodass ich jetzt in der Sonne lag. Melody war nicht mehr neben mir, dafür aber das Buch. Als ich es hochhob, sah ich, dass ein paar Seiten geknickt waren und ich die Stelle, an der ich aufgehört hatte zu lesen, nicht mehr wusste. Seufzend versuchte ich mich aufzurappeln, was mit der Schiene nicht so einfach war. Zweimal fiel ich um, bevor ich es schaffte, auf die Beine zu kommen. Ich hoffe, dass das keiner gesehen hatte. Das wäre nämlich wirklich peinlich. Allein bei dem Gedanken daran, spürte ich schon das Blut in meinen Schläfen pochen. Ein eindeutiges Zeichen: Ich war knallrot im Gesicht.

Erneut seufzend machte ich mich mit Starcrossed in der Hand auf, ins Haus zu gehen. Als ich dort auf die Uhr sah, merkte ich, dass ich zirka zwei Stunden geschlafen haben musste. Bald würden Alice und Mike sich für die  Feier fertig machen und dann nach Ashland City fahren.

„Hanna! Gut, dass du da bist. Ich wollte dich gerade holen.", rief mir Alice entgegen, als ich das Wohnzimmer durchquerte.

Man sah ihr an, dass sie sich einerseits auf die Verlobungsfeier freute, sie andererseits aber auch hier bei ihnen Kindern bleiben wollte. Deshalb beschloss ich, es ihr nicht noch schwerer zu machen, indem ich ihr von den nächtlichen Schmerzen in meinem Bein erzählte, und meinte: „Mach dir keine Sorgen! Es wird alles gut gehen, da bin ich mir sicher."

Die Angesprochene lächelte mich freundlich an. „Danke, Hanna! Es bedeutet Mike und mir wirklich sehr viel, auf diese Party zu gehen. Immerhin ist Steven Mikes bester Freund seit ihrer Schulzeit. Durch ihn habe ich Mike kennen gelernt."

Nachdem Mike Melodys Gitterbett in mein Zimmer gestellt und Alice mir noch tausende Tipps gegeben hatte, waren sie dann schließlich – mit einer halben Stunde Verspätung – weggefahren. Ich hatte den Kindern ihr Abendessen gegeben und nach einem Film – Das Dschungelbuch – um halb neun ins Bett gebracht. Melody sollte ich erst eine Stunde später schlafen legen, damit sie nicht am Morgen so früh aufwachen würde. In der Zwischenzeit musste ich sie noch einmal wickeln, umziehen und ihr ihre Flasche geben.

Mit einem Fläschchen warmer Milch bewaffnet, machte ich mich auf, in mein Zimmer zu gehen. Da niemand da war, mit dem ich mich hätte unterhalten können, zog ich es vor, das Baby in meinem Bett zu füttern, weil mir das bequemer vorkam. Außerdem hatte ich dort meinen Laptop, auf dem ich einen Film schauen konnte.

Als Melodys Fläschchen leer war, war sie nicht wie sonst eingeschlafen, sondern nach wie vor hellwach. Aus diesem Grund legte ich sie auf den Boden, um sie herumrobben zu lassen, bis sie müde genug war um zu schlafen.

Erschöpft ließ ich mich rücklings auf mein Bett fallen. Warum war ich jetzt schon wieder müde? Ich hatte doch am Nachmittag geschlafen. Möglicherweise waren die Tabletten schuld, die ich gegen die Schmerzen in meinem Bein nahm. Bei der Nachuntersuchung hatte Doktor Brown zwar gesagt, dass alles wunderschön verheilen würde, meiner Meinung nach fühlte sich das aber nicht so an. Jeden Abend pochte meine ganze rechte Seite vor Schmerz.

Erschrocken über mich selbst, weil ich das Baby aus den Augen gelassen hatte, setzte ich mich auf. Melody stand auf allen vieren etwa einen Meter vor meinem Bett und blickte mich aus ihren großen blauen Augen an. Oh mein Gott! Sie fängt an zu krabbeln.

Auf wackeligen Armen und Beinen machte sie ein paar Schritte, bis  sie bei meinem Bett angelangt war, dann gaben ihre Ellbogen nach, ihre Stirn schrammte die Kante meines Bettes und sie schlug mit dem Gesicht auf dem Boden auf. Wie gelähmt starrte ich das Baby an, das sich nicht bewegte. Nach ein paar Sekunden, die mir wie eine Ewigkeit vorkamen, setzte das Gebrüll ein und mir fiel ein Stein vom Herzen.

Wenn ein Kind schreit, dann ist es okay. Schlimm ist es nur, wenn es nicht mehr schreit, hörte ich die Stimme meiner Mutter in meinem Kopf. Plötzlich konnte ich mich wieder bewegen, ich sprang auf und hob Melody hoch. Aus ihrer Nase tropfte Blut, genauso wie aus einer Schürfwunde an ihrer Stirn. Panik stieg in mir hoch. Meine Mutter konnte mit ihrer Aussage nicht Recht haben, Melody blutete und das war nicht okay! Fieberhaft überlegte ich, wen ich verständigen sollte. Bis Alice und Mike hier sein konnten, würde mindestens eine Stunde vergehen.

Ein Krankenwagen! Ich muss die Rettung rufen. Mit zittrigen Fingern holte ich mein Handy aus meiner Hosentasche und wählte ich 144.

„Die von Ihnen gewählte Nummer existiert leider nicht.", hörte ich eine weibliche Stimme auf Englisch sagen.

Verdammt, ich war in Amerika! Welche Nummer wählte man hier?

Ich muss schauen, ob Taylor da ist, schoss es mir durch den Kopf. Warum war ich da nicht gleich drauf gekommen?!

Mit Melody auf dem Arm rannte ich trotz meines schmerzenden Beines die Treppe hinunter und ohne Schuhe über den Kies der Einfahrt zur Haustür der Sängerin. Dort klingelte ich Sturm.

„Bitte mach auf!", murmelte ich wie ein Mantra vor mich hin, während ich die immer noch wie am Spieß schreiende Melody hin- und her wiegte. Erleichtert atmete ich auf, als ich hörte, wie der Schlüssel im Schloss umgedreht wurde. Als die Tür aufging, erstarrte ich.

I'm only me when I'm with you (Taylor Swift)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt