Kapitel 106 - Slice of Life - A New Life

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Als Jonathan aufwachte, war es schon dunkel draußen. Seine Augen brannten und sein Kopf fühlte sich an, als wäre er mit Watte gefüllt. Kurz brauchte er einen Moment um zu realisieren, wo er war. Wie automatisiert schob er seine Hand auf die freie Seite des Bettes, doch sie war leer. Er war allein und das hatte er nur sich selbst zuzuschreiben. Mühsam erhob er sich und spürte, wie seine Glieder schmerzten. Sein Blick wanderte auf die Wanduhr und er hatte wirklich den ganzen Tag verschlafen. Es war bereits neun Uhr Abends, dennoch beschloss er noch einmal nach unten zu gehen. Vielleicht waren seine Eltern noch wach und er konnte mit ihnen reden, wie er sich am besten verhalten sollte. Schon als er die Treppe nach unten ging, hörte er den Fernseher im Wohnzimmer. Möglichst leise ging er ins Wohnzimmer und setzte sich auf einen der freien Sessel. Seine Eltern saßen auf dem Sofa und als seine Mutter ihn bemerkte, lächelte sie. „Geht es dir etwas besser?", fragte sie und ohne eine Antwort abzuwarten erhob sie sich und kam zu ihm herüber. Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter und drückte sie kurz, dann ging sie in die Küche. Jonathan sah ihr nach, doch es war klar, dass sie wollte, dass er ihr folgte. Also stand er mit knackenden Gelenken wieder auf und ging zur ihr in die kleine Küche, wo er sich mit verschränkten Armen und gesenktem Blick an den Kühlschrank lehnte. Er spürte den musternden Blick seiner Mutter auf sich, doch er ignorierte sie. Bei der Vorstellung ihr zu erzählen, was er Sheila alles gesagt hatte und was er zugelassen hatte, das Karima mit ihm tat, schien sich seine Zunge zu verknoten. Er konnte es ihr einfach nicht sagen. „Was ist nur los bei euch?", fragte seine Mutter dann und sie kam näher an ihn heran. Jonathan seufzte, doch dann zuckte er die Schultern. Die Frage war wohl eher, was bei ihm los war. „Es liegt an mir. Ich bin irgendwie so frustriert. Es läuft alles beschissen", beschwerte er sich und wie allzu oft spürte er eine Welle der Wut in sich aufsteigen. Nur mühsam gelang es ihm, sie im Zaum zu behalten. „Was denn genau?", hakte sie nach und endlich hob er den Blick um sie anzusehen. Sie lächelte aufmunternd, was ihn irgendwie nervte, denn ihm selbst war gar nicht zum Lächeln zumute. „Läuft es auf der Arbeit nicht gut?", fragte sie weiter und obwohl er sich vorkam wie in einem Verhör und aus der Situation fliehen wollte, nickte er. „Naja, es ist schon etwas besser, aber... ich weiß es auch nicht. Wenn ich mich mal wieder länger als eine Stunde auf etwas konzentrieren könnte und mich an meinen Zeitplan halten würde, wäre es wahrscheinlich gar nicht so schlecht", berichtete er dann und kaum dass es ausgesprochen war, fühlte er sich um eine Tonne erleichtert. Seine Mutter nickte. „Manchmal braucht man einfach mal Urlaub. Ihr wart schon ewig nicht mehr weg", erwiderte sie und er musste zugeben, dass sie Recht hatte. Nach ihrer Weltreise hatten sie noch nie Urlaub gemacht, was seit ziemlich genau zwei Jahren war. „Es ist in Ordnung, wenn man frustriert ist, aber du meintest, dass du es an ihr ausgelassen hast?", bohrte sie weiter und Jonathan fuhr sich mit den Händen durch das Gesicht. Die Wahrheit tat weh, mehr als er zugeben wollte. „Ja, ich habe sie angefahren, obwohl sie gar nichts getan hat. Dadurch habe ich es provoziert, einen Streit anzufangen und ich habe ihr Dinge gesagt, die ich eigentlich gar nicht so gemeint habe. Ich habe ihr absichtlich wehgetan und ich weiß gar nicht so genau, warum", platzte es dann aus ihm heraus und in seinen Augen sammelten sich wieder Tränen. Eine Weile schwieg seien Mutter, dann legte sie ihm die Hand auf die Schulter. „Dann ist es gut, dass du hier bist. Lass ihr ein wenig Luft zum Atmen", riet sie ihm, doch sofort drängte sich seine unbegründete Eifersucht wieder auf. Er wusste doch, dass Sheila nichts mit Leonard anfangen würde, doch der Gedanke daran ließ ihn einfach nicht in Ruhe. „Ich bin auch irgendwie so eifersüchtig. Schlimmer als sonst", sagte er dann und obwohl er es noch vor ein paar Stunden nicht geglaubt hatte, tat es gut, mit seiner Mutter zu reden. „Gibt es denn einen Grund?", wollte sie wissen, doch er warf ihr nur einen gequälten Blick zu. „Nein, eigentlich nicht", sagte er noch, doch sie schien hellhörig zu werden. „Eigentlich?", hakte sie nach, woraufhin Jonathan anfing, sich die Haare zu raufen. „Gestern ist da was passiert. Ich habe es zuerst falsch verstanden, weil ich nicht alles mitbekommen habe, aber das hätte sie nicht tun sollen", antwortete er, doch ihm war klar, dass seine Mutter mehr wissen wollte. Sie lehnte sich neben ihn an die Arbeitsfläche und musterte ihn. „Mir ist klar, dass es dir unangenehm ist und du sie nicht in ein schlechtes Licht rücken willst, aber... wenn sie dich betrogen hat, solltest du dir überlegen, ob du ihr das verzeihen kannst", sagte sie dann und sofort riss er den Kopf zu ihr herum. „Nein, das hat sie nicht. Sie hat...", setzte er an, doch es wollte ihm nicht über die Lippen kommen. Vor allem nicht, weil Leonard der Sohn der Schwester seiner Mutter war. Er wollte nicht dafür sorgen, dass bei der nächsten Familienfeier dicke Luft herrschte. Er stöhnte, denn wenn er wirklich einen Tipp von seiner Mutter haben wollte, musste er doch zumindest etwas genauer erzählen was passiert war. „Sagen wir, sie wurde von jemanden, von dem ich weiß, dass er sie mehr mag als er sollte an Stellen berührt, wo niemand außer mir etwas zu suchen hat", sagte er kryptisch, woraufhin seine Mutter eine Augenbraue hochzog. Er fühlte sich, als könnte sie in sein Innerstes sehen und erkennen, dass auch er nicht ganz so unschuldig war, wie er es darstellte. „Allerdings habe ich auch Mist gebaut und sie hat es mir nach nicht einmal einem Tag verziehen", fuhr er fort und warf einen schüchternen Blick zu seiner Mutter, die ihn sofort strafend ansah. „Ihr seid beide erwachsen und könnt tun und lassen, was ihr wollt. Aber du kannst sie nicht dafür verurteilen, wenn du genau das Gleiche getan hast wie sie", sagte sie streng und Jonathan nickte. „Vielleicht war mein Fehler ein deutlich größerer als ihrer. Ich meine...", setzte er an, doch dann knickte er ein. Mit ausweichenden und kryptischen Andeutungen würde er nicht weiterkommen. Er atmete noch einmal tief durch, dann erzählte er seiner Mutter von Karima, alles bis ins kleinste Detail. Sie unterbrach ihn kein einziges Mal, doch ihr Blick sagte mehr als tausend Worte. Sie war enttäuscht von ihm und als er alles gebeichtet hatte, kam er sich noch mehr wie ein heuchlerischer Versager vor. „Aber es gibt da noch eine Sache", hörte er sich sagen und seine Gedanken wanderten an den Schwangerschaftstest, der noch immer auf dem Waschbecken lag, wenn sie ihn nicht weggeworfen hatte. „Was hast du noch angestellt?", fragte seine Mutter seufzend, doch unwillkürlich legte sich ein Grinsen auf sein Gesicht. „Ich habe sie geschwängert", sagte er und warf schüchtern einen Blick zu ihr. Mit weit aufgerissenen Augen sah sie ihn an und es war offensichtlich, dass sie damit nicht gerechnet hatte. „Oder besser gesagt, der Test war positiv, sie geht morgen noch zum Arzt", erklärte er, doch seine Mutter öffnete und schloss immer wieder den Mund, als wollte sie die ganze Zeit etwas sagen, doch ihr fehlten die richtigen Worte. Jonathan spürte, wie sich eine angenehme Wärme in ihm ausbreitete und seine Hände fingen an zu zittern. „Das freut mich wirklich für euch. Aber umso wichtiger ist es, dass du herausfindest, warum du so frustriert bist und das änderst", sagte sie dann ernst und er brachte nur ein Nicken zustande. „Ich weiß. Ich rufe sie morgen an und frage sie, wie es beim Arzt war. Irgendwie...", setzte er an, doch er winkte ab. Es war Blödsinn, sich Sorgen darüber zu machen, dass sie das Kind verlieren könnte. Es würde ihn nur fertig machen, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. „Das solltest du tun", sagte seine Mutter, drückte noch einmal seine Schulter und lächelte ihn an. „Jetzt solltest du dich etwas ausruhen. Es gibt sicherlich viel, worüber du nachdenken musst", fuhr sie fort, dann ließ sie ihn allein und ging wieder zurück ins Wohnzimmer. Jonathan seufzte, denn obwohl er seiner Mutter eigentlich nichts hatte erzählen wollen, tat es nun doch gut. Er öffnete den Kühlschrank und nahm sich einen Joghurt heraus und setzte sich damit an den Esstisch. Er sah, wie seine Mutter und sein Vater leise miteinander sprachen, doch er hörte absichtlich weg. Er hatte sich schon genug geöffnet und er musste wirklich darüber nachdenken, wie er es hinbekam, nicht ständig auszuflippen.

Nachdem er aufgegessen und seinen Eltern eine gute Nacht gewünschte hatte, war er wieder in sein altes Kinderzimmer unter dem Dach gegangen. Er lag auf dem Rücken, hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt und starrte an die Decke. Seine Gedanken schwirrten unruhig umher, ohne dass er einen konkreten Gedanken hätte fassen können. Doch wenn er ehrlich war tat es gut, einfach mal an nichts zu denken. Genau das wollte er doch in den paar Tagen schaffen, in denen er nicht bei Sheila war. Er wollte die Seele baumeln lassen und sich etwas von allem erholen und gleichzeitig herausfinden, warum er so genervt von allem war. Obwohl es inzwischen nach Mitternacht sein musste, konnte er nicht schlafen. Immerhin hatte er ja den ganzen Tag verpennt. Ein Vibrieren ließ ihn zusammenzucken und eilig zog er die Schublade an seinem Nachttisch auf, doch sein Handy hatte sich nur automatisch ausgeschaltet, wahrscheinlich weil der Akku leer war. Jonathan stand fluchend auf und kramte sein Ladekabel aus seinem Koffer, denn er wollte auf jeden Fall immer für Sheila erreichbar sein, sollte ihr irgendetwas passieren. Er würde nicht noch einmal zulassen, dass Leonard zu ihr fuhr und sie nach Hause brachte, wie er es nach ihrem kleinen Unfall getan hatte. Das war doch seine Aufgabe. Er schloss das Handy an das Kabel an und schaltete es wieder ein. Doch niemand hatte ihn angerufen oder eine Nachricht geschrieben. Warum auch, er war zu jedem in seiner Umgebung ziemlich gemein gewesen. Er legte das Handy neben seinen Kopf auf die Matratze und versuchte dann, irgendwie einzuschlafen, doch es gelang ihm nicht. Er griff wieder nach seinem Handy und klickte auf die Fotos. Er wählte den Ordner ihrer Weltreise aus und klickte sich durch die Bilder. Auf fast jedem war Sheila zu sehen und bei ihrem Lächeln sank ihm das Herz in die Hose. Damals war sie glücklich gewesen. Nachdem er sich eine ganze Weile Bilder angesehen hatte, fiel es ihm schwer, sie nicht anzurufen. Es war halb drei Uhr morgens und sie schlief mit Sicherheit, dennoch wollte er so gern ihre Stimme hören. Doch er riss sich zusammen. Er wollte und brauchte diese Auszeit, das war ihm klar. Es würde nichts bringen, wenn er morgen schon wieder zu ihr zurück fuhr, denn dann würde sich nichts ändern. Er legte sein Handy wieder neben sich und schloss die Augen. Irgendwann würde er schon einschlafen, wenn er lange genug mit geschlossenen Augen da lag. Noch ein paar Mal warf er Blicke auf sein Handy, doch es blieb erbarmungslos still. Morgen würde er Sheila anrufen können, denn so hatten sie es vereinbart. Diesen Satz sagte er sich immer und immer wieder wie ein Mantra und tatsächlich schlief er irgendwann ein. 

Slice of Life - A New Life (in Überarbeitung)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt