Kapitel 91 - Slice of Life - A New Life

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Sheila parkte ihren Wagen auf dem Schotterparkplatz vor dem Varieté und holte ihr Handy aus der Handtasche, die auf ihrem Beifahrersitz lag. Sie war viel zu früh, doch sie hatte es nicht mehr länger bei Jonathan ausgehalten. Oder besser gesagt: Sie wollte ihn nicht noch mehr aufregen. Denn das hatte sie durch ihre Fragerei getan. Aber sie hatte es einfach wissen müssen, was mit Karima war. Allerdings war sie nicht wirklich schlauer, denn bevor er wirklich wütend wurde, war sie gegangen. Allein bei der Erinnerung daran hätte sie am liebsten losgeheult, doch sie riss sich zusammen und richtete den Blick auf ihr Handy. Niemand hatte sich bei ihr gemeldet, was sie ein wenig enttäuschte. Vielleicht hatte ihr Unterbewusstsein gehofft, dass Jonathan ihr geschrieben hatte. Sie entsperrte den Bildschirm und tippte eine Nachricht an Leonard. Sie wollte sich bedanken, dass er ihr geholfen hatte, als Jonathan es nicht getan hatte. „Danke, dass du zu mir gekommen bist. Das hättest du nicht tun müssen", schrieb sie und wollte ihr Handy gerade wieder wegstecken, als sie einen Anruf bekam. In der ersten Sekunde dachte sie, es wäre vielleicht Jonathan, doch warum sollte er auch anrufen? Es war Leonard und sie beeilte sich, das Gespräch entgegen zu nehmen. „Hallo", meldete sie sich und erschreckte selbst vor ihrer kratzigen Stimme. „Hallo", wiederholte Leonard mit gedämpfter Stimme, als könnte er nicht laut sprechen. „Wie geht es dir?", fragte er dann, bevor sie etwas sagen konnte. Sie seufzte. Eigentlich hatte sie nicht wirklich Lust, sich bei ihm zu beschweren, denn vielleicht erzählte er es dann Jonathan. „Ganz okay", sagte sie demnach, doch als Antwort schnalzte Leonard mit der Zunge. „Habt ihr euch wieder gestritten?", fragte er einfühlsam, was Sheila ein wenig verwirrte. Zwar mochte sie Leonard, seit sie sich das erste Mal getroffen hatten, doch er war eher der lustige Kumpel gewesen, mit dem man herumalberte und nicht über seine Probleme sprach. Unwillkürlich musste sie daran denken wie sie sich vor beinahe dreieinhalb Jahren an Weihnachten kennengelernt hatten. Sheila und Jonathan waren bei Jonathans Eltern gewesen und Leonard, seine Schwester Emma, ihre Mutter Marlies und Jonathans Großeltern waren auch da gewesen. Sheila war ganz schön betrunken gewesen, doch dieses Weihnachten würde sie mit Sicherheit nie wieder vergessen, denn Jonathan hatte sie vollkommen überraschend gefragt, ob sie ihn heiraten wollte. Sheila schüttelte den Gedanken ab und zwang sich wieder zur Konzentration auf das Gespräch mit Leonard. „Naja, nicht wirklich. Ich bin gegangen, bevor er sich zu sehr aufgeregt hat. Aber ist auch egal", sagte sie schnell und hoffte, Leonard würde sie nicht dazu ausfragen. Eine Weile schwieg er. „Willst du drüber reden?", fragte er dann, doch Sheila brachte nur ein ersticktes Geräusch hervor. „Okay, aber falls du mal reden willst oder du... naja, falls du Ablenkung brauchst, wenn Jonathan nicht da ist, dann melde dich", sagte er und tatsächlich musste Sheila kichern. Seine Worte konnte man auch falsch verstehen. Er gluckste, dann korrigierte er sich. „Ich meine, wenn du mal einen Kumpel brauchst, melde dich", sagte er, doch Sheila lachte weiter. „Mache ich. Er hat dir nicht zufälligerweise gesagt, wie lange er plant, wegzubleiben?", fragte sie. „Nein, aber ich denke nicht, dass er es länger als eine Woche aushält. Er muss auch arbeiten, das kann er nicht zu lange schleifen lassen", antwortete er und Sheila nickte. Eine Woche würde sie schon überstehen, auch wenn sie seit sie sich kannten noch nie so lange getrennt gewesen waren. Kurz überlegte sie und musste feststellen, dass sie sie sich jeden Tag gesehen hatten, seit sie ein Paar waren. „Okay, das schaffe ich schon irgendwie", erwiderte sie und fuhr sich durch die Haare. Irgendwie wollte sie auf der einen Seite, dass er seine Auszeit bekam und sich wieder sammeln konnte, doch gleichzeitig wollte sie nicht, dass er ging. Sie würde sich einsam fühlen ohne ihn. „Vielleicht tut es dir auch gut. Es muss zermürbend sein, wenn er immer wieder schlecht gelaunt ist, ohne dass du es verhindern kannst", sagte Leonard dann und sofort fühlte Sheila sich verstanden. „Ja, schon. Ich komme mir vor, als müsste ich die ganze Zeit auf der Hut sein und Tretminen ausweichen, die man unmöglich sehen kann. Manchmal weiß ich ja, warum er wütend wird, aber manchmal kommt es ziemlich unerwartet", plapperte sie dann drauf los und biss sich auf die Zunge. Sie hatte doch gar nicht so viel mit ihm reden wollen. „Das stelle ich mir ziemlich anstrengend vor. Aber ich muss dann mal los, ich muss noch zu einem Termin auf der Arbeit. Wir sehen uns morgen", verabschiedete er sich dann. „Bis morgen", murmelte Sheila noch, dann legte sie auf. Morgen war Jonathans Geburtstag, doch es kam ihr trotzdem noch ganz weit weg vor. Die Vorstellung, morgen Abend Gäste zu haben kam ihr surreal vor. Sie war einfach nicht in der Stimmung, gut gelaunt mit allen ein Pläuschchen zu halten. Sie warf noch einen Blick auf die Uhr, doch sie hatte noch immer zwanzig Minuten Zeit, bis ihre Schicht anfing. Dennoch schob sie ihr Handy in die Handtasche und stieg aus. Unter ihren Schuhen knirschte der Kies und irgendwie war es ein beruhigendes Geräusch und stand im Kontrast zu dem weichen, federnden Gefühl, das sie auf dem roten Teppich hatte, der zum Eingang des Varietés führte. Sie ging durch die sich öffnende Glastür und marschierte geradewegs in den Raum, in dem sie ihre Handtasche in einem Spind verstaute, dann ging sie in Richtung der Toiletten. Obwohl sie gar nicht auf die Toilette musste, schloss sie sich in einer die Kabinen ein und setzte sich auf den geschlossenen Deckel. Sie stützte den Kopf in die Hände und genoss für einen Moment die Stille. Zwar hörte sie das Surren des elektrischen Lichts, doch ansonsten war es totenstill. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, warum sie in ihrem Leben immer so viel Stress hatte. Nach dieser Sache mit Ville hatte sie gehofft, dass mit Jonathan alles besser wurde. Natürlich konnte man die beiden nicht vergleichen, doch wirklich gut lief es ja im Moment nicht. Zwar glaubte sie nicht, dass es sich mit ihr und Jonathan ein für alle Mal erledigt hatte, doch irgendetwas war anders. Jonathan war anders. Vielleicht hätte sie das alles noch irgendwie hinnehmen können, wenn sie nicht seit fast einer Woche überfällig wäre. Gefühlt ewig hatten sie probiert, ein Kind zu bekommen und genau jetzt klappte es? Sheila fühlte sich, als würde irgendjemand da oben sitzen und sich über sie lustig machen. Niemals hatte sie sich für ihr Kind gewünscht, mit nur einem Elternteil aufzuwachsen und nun stand sie kurz davor eine alleinerziehende Mutter zu werden. Jonathan hatte zwar gesagt, dass er sich nicht trennen wollte, doch in einem Moment, in dem er wütend war, hatte er zumindest behauptet, darüber nachzudenken. Was sollte sie nur tun, wenn er in seiner Zeit allein beschloss, dass es ihm ohne sie viel besser ging? Wenn er heimlich seine Sachen abholte und nie wieder etwas mit ihr zu tun haben wollte? Allein bei dem Gedanken zog sich ihre Brust schmerzhaft zusammen. Davon abgesehen, dass sie nicht wollte, dass ihr Kind seinen Vater nur am Wochenende sah, würde sie eine ganze Weile damit zu kämpfen haben, allein zu sein. Noch nie hatte sie ganz allein gelebt und eigentlich war sie auch immer in einer Beziehung gewesen. Villes Abwesenheit während seiner Haftstrafen waren die Hölle gewesen, obwohl sie sich regelmäßig besucht und Briefe geschrieben hatten. Unwillkürlich drängte sich ein lähmender Gedanke in ihr Hirn. Was, wenn Jonathan das gleiche machen würde, wie ihr Bruder damals? Wenn er sich einfach nicht für sein Kind interessierte? Eigentlich glaubte Sheila es nicht, doch im Moment begriff sie so einiges nicht, was in seinem Kopf vor sich ging. Sheila schüttelte sich, dann erhob sie sich und ging zu einem der Waschbecken. Sie ließ sich eiskaltes Wasser über die Handgelenke laufen und wie immer beruhigte sie das ein wenig. Sie trocknete sich die Hände mit den Papierhandtüchern ab, dann machte sie sich wieder zurück auf den Weg hinter die Bühne. Allmählich kam Leben ins Varieté. Die anderen Mitarbeiter kamen und auch die Künstlerinnen bereiteten sich auf ihren Auftritt vor. Sheila betrat den Fundus und warf einen Blick auf die Reihenfolge der Künstlerinnen und kontrollierte, ob alle Kostüme vollständig und in der richtigen Reihenfolge waren. Sanft strich sie über den weichen Stoff eines orange-pinken Kostüms. Es musste sich toll anfühlen, für einen Abend in eine andere Rolle zu schlüpfen und sich so aufzubrezeln. Sie dachte an die erste Künstlerin zurück, die sie hier kennengelernt hatte. Sie nannte sich Miss Buttercup und trug ständig eine riesige, orangefarbene Perücke. „Da bist du ja", riss sie eine Stimme aus ihren Gedanken und erschrocken riss sie den Kopf herum. Sie blickte in das lächelnde Gesicht von Karim, der lässig im Türrahmen stand und sie ansah. Sheila ließ das Kostüm los und ging einige Schritte auf ihn zu. „Hast du zufällig morgen für eine außerplanmäßige Probe für die Mitarbeiter-Vorführung Zeit? Wir haben nicht mehr so viel Zeit und wir müssen dringend proben", fragte er und sah ein wenig gehetzt aus. Sheila überlegte. Morgen war zwar Jonathans Geburtstag, doch wenn es morgen genau so laufen würde wie die letzten Tage, würden sie sich spätestens gegen Mittag wieder in den Haaren liegen. Außerdem war es seine Party und er konnte sich genau so gut in die Küche stellen und Kuchen und Snacks vorbereiten. „Ja, nur abends kann ich nicht. Wann wolltest du anfangen?", fragte sie und sah, wie er erleichtert die angespannten Schultern sinken ließ. „Sehr gut! Ich dachte, wir könnten uns am Vormittag treffen. Daniel kann da am besten und wir werden sicher nicht den ganzen Tag brauchen. Vielleicht zwei oder drei Stunden", sagte er und Sheila nickte schnell. „Klingt gut. Ich freue mich", sagte sie, dann hielt Karim ihr die Hand hin, damit sie einschlug. Sie tat es und erwiderte sein Lächeln. Doch gleichzeitig sah sie in seinen Augen, dass ihn noch etwas Anderes beschäftigte. „Was ist los?", fragte sie dann und flehte, dass er nicht schon wieder eine Überraschung parat hatte, die Karima betraf. Sein Lächeln verschwand und er musterte sie eindringlich. Etwas verlegen senkte er dann den Blick und trat von einem Fuß auf den anderen. „Ist bei dir zu Hause alles in Ordnung? Ich meine... dein Gesicht...", stammelte er dann und sofort legte Sheila die Hand auf ihren Kiefer, auf dem ein dicker blauer Fleck prangte. Es fühlte sich noch geschwollen an und wenn man etwas fester drückte tat es auch noch weh. Doch gleichzeitig wurde ihr bewusst, dass Karim glaubte, Jonathan hätte sie geschlagen. „Ach, halb so wild. Ich hatte gestern einen kleinen Autounfall", sagte sie und hoffte, dass er ihr glaubte. Er hob wieder den Blick und sah sie misstrauisch an, doch dann wandelte sich sein Gesichtsausdruck zu besorgt. „Bist du sonst okay? Was genau ist passiert?", wollte er wissen und streckte die Hand nach ihr aus und berührte sie kurz an der Schulter. „Ach, ich war abgelenkt und die Straße war rutschig vom Regen. Ich bin auf ein Feld geschlittert, aber es ist nichts passiert. Nur ein paar blaue Flecke", sagte sie schulterzuckend, doch Karim schluckte schwer. „Das tut mir leid. Alles, meine ich", sagte er dann und sofort wusste Sheila, dass er seine Schwester meinte. Sie atmete ein paar Mal tief ein und aus, doch dann setzte sie ein gezwungenes Lächeln auf. „Mach dir keine Gedanken. Es ist alles in Ordnung", log sie, dann trafen sich für einen Moment ihre Blicke. Es war eindeutig, dass er ihr nicht glaubte. „Na gut. Aber... falls du mal jemandem dein Herz ausschütten willst, sag Bescheid", bot er an und Sheila nickte dankbar, auch wenn sie wusste, dass sie dieses Angebot nicht annehmen würde. Sie mochte Karim und sie verstanden sich auch gut, aber eigentlich wussten sie nicht wirklich viel über das Privatleben des Anderen. „Ich muss dann mal. Wir sehen uns morgen", verabschiedete er sich, dann verschwand er. Sheila straffte die Schultern, dann machte sie mit ihrer Arbeit weiter. Karim war neben Leonard nun schon der zweite, der ihr ein offenes Ohr anbot, obwohl sie eigentlich nicht wirklich eng miteinander befreundet waren. Dennoch freute es sie und es zeigte ihr, dass zumindest die beiden sie mochten. Es war ein gutes Gefühl und davon beschwingt brachte sie den Abend hinter sich. 

Slice of Life - A New Life (in Überarbeitung)Where stories live. Discover now