Kapitel 74 - Slice of Life - A New Life

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Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis Sheila endlich zurückkam. Jonathan hatte inzwischen etwas zu Essen gekocht und es müsste noch warm sein, doch er hatte solchen Hunger gehabt, dass er nicht mehr auf sie hatte warten können. Er lief unruhig im Wohnzimmer auf und ab und lauschte auf das Motorengeräusch ihres Wagens. Die ganze Zeit zermarterte er sich das Hirn, was sie wohl mit Matthias besprechen würde. Ganz offensichtlich wollte er sich jemandem anvertrauen, aber ganz so leicht schien es ihm doch nicht zu fallen. Als er sie endlich in die Einfahrt fahren hörte, rannte er beinahe zur Tür und öffnete ihr. Mit schnellen Schritten kam sie auf ihn zu und bevor er irgendetwas sagen konnte, fiel sie ihm um den Hals und drückte ihn so fest, dass ihm kurz die Luft wegblieb. „Hey, alles in Ordnung?", fragte er, während er sie nach drinnen zog und dann die Tür hinter ihr schloss. Sie atmete tief ein und aus, dann löste sie sich von ihm und sah ihm tief in die Augen. Jonathan versuchte, irgendetwas in ihrem Blick zu lesen, doch es gelang ihm nicht. Er konnte nicht sagen, ob sie wütend, enttäuscht oder besorgt war. Doch bevor sie ihm antwortete, nahm sie seine Hand und zog ihn zurück ins Wohnzimmer, wo sie sich mit einem Seufzen aufs Sofa fallen ließ. Auch Jonathan setzte sich, doch er wandte sich ihr neugierig zu. „Er ist so durch den Wind, weil er glaubt, er hätte noch Gefühle für Oskar. Er hat mir nicht allzu viel darüber erzählt, aber er scheint sich da in irgendetwas zu verrennen", berichtete sie, doch Jonathan begriff noch nicht ganz, was sie damit meinte. „Wie genau meinst du das?", fragte er nach, doch wieder seufzte Sheila und sie fing an, ihre Hände zu kneten. „Naja, er meinte, er muss die ganze Zeit daran denken, was wäre wenn Oskar Johnny wirklich verlassen würde. Ich habe versucht ihm zu erklären, dass er das niemals tun wird und ich glaube vom Verstand her weiß er es auch. Allerdings hat er ein schlechtes Gewissen gegenüber Jonas und das zerfrisst ihn", erklärte sie. Jonathan runzelte die Stirn. Er konnte ja nachvollziehen, dass man sich mal in jemanden verguckte, von dem man eigentlich wusste, dass er unerreichbar war. Doch anscheinend steigerte Matthias sich ziemlich in die Sache hinein. „Und warum hat er Esra ignoriert? Was hat sie damit zu tun?", fragte er dann, doch Sheila hob entschuldigend die Hände. „Er ist einfach mit allem überfordert und er will niemanden sehen. Außerdem war er heute Morgen bei einem Arzt, der ihm etwas nicht so Schönes gesagt hat", fuhr sie fort. Sofort war Jonathan alarmiert. „Ist er krank?", fragte er entsetzt, denn wenn er vielleicht irgendeine überraschende Diagnose bekommen hätte, könnte man seine Reaktion vielleicht ein bisschen besser nachvollziehen. Sheila suchte seinen Blick und für ein paar Sekunden sah er in ihre dunklen Augen. „In gewisser Weise schon. Er hat mir seine Diagnose gezeigt. Er ist...", setzte sie an, doch dann brach sie ab, wandte den Kopf zu Seite und schüttelte ihn ungläubig. „Was denn?", drängte er, denn sie machte ihn ganz nervös. Er beobachtete, wie sie die Schultern strafften und ihn dann wieder ansah. „Er ist Alkoholiker und soll einen Entzug machen. Morgen muss er noch einmal zum Arzt um alles zu besprechen. Ich... er hat schon immer viel getrunken, aber dass es so schlimm ist, habe ich nicht erwartet. Seine Wohnung sah aus wie der letzte Saustall", sagte sie und einen Moment lang brauchte Jonathan, bis er begriff, was sie da gesagt hatte. „Er ist Alkoholiker?", fragte er ungläubig und musste daran denken, wie er es einmal zu Sheila gesagt hatte, als er wütend auf ihn war. Er hatte es nicht wirklich ernst gemeint, denn eigentlich hatte er gedacht, dass Matthias damit aufhören konnte. „Scheint so. Er ist vollkommen fertig, aber er will sich helfen lassen. Jonas ist gerade bei ihm und ich hoffe, dass sie sich irgendwie zusammenraufen", sagte sie, dann verzog sie das Gesicht zu einer Grimasse und wandte sich von ihm ab. Keine Sekunde später schniefte sie. „Hey", sagte Jonathan sanft, rutschte näher an sie heran und legte den Arm um sie. „Ist schon gut. Er hat sich doch nun jemandem anvertraut. Jetzt wissen wir wenigstens, was los ist und wir können ihm helfen", sagte er, doch ehrlich gesagt hatte er keine Ahnung, wie er ihm helfen sollte. Sheila lehnte sich an ihn und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. „Ich war so wütend auf ihn, aber jetzt tut er mir irgendwie doch leid. Er hing schon immer an Oskar, schon als Kinder. Irgendetwas scheint die beiden zu verbinden, das niemand begreift außer ihnen", sagte sie und Jonathan wusste, was sie meinte. Die beiden waren wirklich enger als normale Freunde. Es war schwierig zu beschreiben, doch er wusste, was Sheila meinte. Auf einmal kam ihm ein bitterer Gedanke und unwillkürlich musste er schnauben. „Was denkst du über die ganze Sache?", wollte Sheila wissen. Jonathan war sich nicht sicher, ob sie sein Schnauben nicht gehörte hatte oder ob sie es absichtlich ignorierte. Kurz zögerte er, doch dann sprach er einfach aus, was er dachte. „Ich frage mich ständig, was ihr nur an den beiden findet. Oskar und Ville meine ich. Sie sind beide doch irgendwie komisch", sagte er und spürte, wie sein Herz schneller schlug. Er vermied es normalerweise, Sheila auf ihren Ex anzusprechen, doch es interessierte ihn wirklich. So weit es es einschätzen konnte, manipulierten sie beide die Leute, die ihnen nahestanden und sie spielten mit den Gefühlen von ihnen. Sheila wich sämtliche Farbe aus dem Gesicht, doch sie sah ihn weiter in die Augen. Ein paar Mal setzte sie zu einer Antwort an, doch immer wieder unterbrach sie sich. „Es war nicht böse gemeint. Es ist nur... Oskar ist ja ganz nett und eigentlich mag ich ihn auch, aber er hat schon öfter gezeigt, dass er auch kalt und berechnend sein kann. Und was ich von Ville halte weißt du. Warum seid ihr beide so von ihnen eingenommen?", sagte er dann und er konnte sehen, wie es in Sheilas Hirn arbeitete. „Naja, wir sind mit ihnen aufgewachsen. Sie waren die ersten, die wir hier kennengelernt haben und weil sie es zu Hause nicht leicht hatten, waren sie ziemlich oft bei uns. Zumindest Oskar war als Kind nicht so, wie er heute ist. Er hat niemanden absichtlich verletzt. Ville war schon immer so, aber ich habe mich damals einfach in ihn verknallt. Er war der erste Junge, den ich wirklich mochte und ich hätte alles für ihn getan. Ich denke, es ist einfach so, weil wir sie schon so lange kennen", versuchte sie zu erklären, doch so recht begriff er es nicht. Doch er fand, dass er nicht länger mit ihr über Ville reden musste. Es würde sie hinterher nur traurig machen, also beschloss er, sie weiter nach Matthias zu fragen. „Was hat er denn sonst noch erzählt?", wollte er wissen, doch Sheila zuckte die Schultern. „Nicht so viel eigentlich. Er hat mir seinen Bericht vom Arzt gezeigt und dann hat er ziemlich schnell eingesehen, dass es so nicht weitergehen kann. Er hat Jonas angerufen und er wollte vorbei kommen. Wir haben dann noch ein bisschen aufgeräumt und ich bin gefahren", sagte sie schulterzuckend und auf einmal wirkte sie erschöpft. Jonathan fing an, ihre Schultern zu massieren. „Und ich habe ihm erzählt, dass ich überfällig bin", sagte sie dann wie beiläufig. Jonathan hielt in seiner Bewegung inne. „Ich dachte, du wolltest es ihm noch nicht erzählen", erwiderte er und dachte daran, wie sie ihn vorhin angesehen hatte. „Eigentlich nicht, aber als er im Auto wieder beinahe normal war, konnte ich nicht anders. Er freut sich wirklich für uns", sagte sie und fing an zu grinsen. Jonathan erwiderte es und spürte, wie ihm warm ums Herz wurde. „Ich freue mich auch", flüsterte er ihr ins Ohr und küsste sie sanft auf die Wange. „Wir werden eine richtige kleine Familie", gab sie zurück, schlang einen Arm um seine Schulter und setzte sich auf seinen Schoß. Er konnte nicht mehr aufhören zu lächeln, so schön klang die Vorstellung. „Wann willst du es deinem Vater sagen?", fragte er dann und sie legte einen Finger ans Kinn, als würde sie überlegen. „Ich weiß nicht. Ich denke, wir sollten zumindest den Test abwarten. Wenn er positiv ist, rufe ich am Montag direkt beim Arzt an. Ich denke wir sollten nichts überstürzen und warten, bis wir ganz sicher sind", sagte sie dann und er nickte. Erst da schien ihm wieder bewusst zu werden, dass sie erst zwei Tage überfällig war. In seinen Gedanken war er schon viel weiter und die Erkenntnis war doch recht ernüchternd. Sie konnte noch immer jeden Moment ihre Periode bekommen und der Test könnte negativ sein. „An was denkst du?", riss sie ihn aus seinen Gedanken und er versuchte, sie durch ein Kopfschütteln zu vertreiben. „Ach nichts. Ich glaube mein Hirn hat noch nicht begriffen, dass das alles noch gar nicht sicher ist", gab er zu, doch Sheila nickte. „So geht es mir doch auch. Aber das wird schon alles, ich habe da ein gutes Gefühl", versuchte sie ihn aufzumuntern und er lächelte gequält. Es war doch einfach zu verlockend, sich schon auszumalen, wie sich ihr Körper verändern würde und ihr gemeinsames Kind in ihr heranwuchs. „Ich glaube, wenn du doch nicht schwanger sein solltest...", setzte er an, doch sie brachte ihn mit einem Kuss zum Schweigen. „Hör auf. Warum sollte es nicht klappen?", fragte sie, doch er zuckte nur die Schultern. „Ich weiß, was dich ablenken könnte", sagte sie dann und auf einmal leuchteten ihre Augen. Verwirrt sah er sie an, doch sie grinste. „Du wolltest doch sehen, was für uns für die Mitarbeiter-Vorführung ausgedacht haben", erinnerte sie ihn und erst da fiel es ihm wieder ein. Es war so viel passiert, dass er es beinahe vergessen hatte. „Stimmt! Da fällt mir auch noch etwas ein. Ich habe was gekocht. Ist inzwischen allerdings bestimmt kalt", sagte er, doch Sheila winkte ab. „Komm, ich zeige dir erst einmal, was wir geprobt haben und danach esse ich was", sagte sie, dann sprang sie auf und zog an seiner Hand. Er beeilte sich, ebenfalls aufzustehen, verschränkte seine Finger mit ihren und ließ sich von ihr mitziehen. „Wir gehen ins Studio, da ist genug Platz und ich brauche ein Klavier", erklärte sie, während sie ihn in den Flur zog. „Okay... Spielst du nun doch?", fragte er, denn sie hatten doch am Freitag noch das Klavierstück aufgenommen. „Kurz am Anfang, aber es ist einfacher, wenn ich es dir zeige", sagte sie und klang auf einmal ganz aufgeregt. Sie zogen ihre Schuhe an und gingen Hand und Hand zu seinem Studio. Sheila schien wegen der Vorführung ganz aufgeregt zu sein, doch er konnte es nachvollziehen. Auch er selbst hatte schon Auftritte gehabt und war davor immer ziemlich nervös. Jonathan schloss die Studiotür auf und Sheila ging geradewegs zum Klavierstuhl und ließ sich darauf nieder. Er selbst setzte sich auf seinen Drehstuhl und sah sie neugierig an. „Also", setzte sie an, doch dann kicherte sie. „Was denn?", fragte er verwirrt, doch ihr Lachen war ansteckend. „Es ist doch ein bisschen komisch, es dir allein zu zeigen. Aber ich versuche es", sagte sie und neugierig sah er sie an. „Ich bin gespannt", sagte er, dann drehte sie sich auf dem Stuhl herum und legte die Hände auf die Tasten des Klaviers. „Stell dir vor, wir sind in einem Club in den Zwanzigern oder Dreißigern", beschrieb sie und er stellte es sich vor. „Okay", sagte er und sah sie in einem hübschen, ausgestellten Kleid vor sich. „Ich spiele Klavier und Daniel und Karim sind Gäste auf der Party. Sie hören mir zu und nach einer Weile wollen sie beide mit mir tanzen und es ist ein wenig wie ein Ränkespiel zwischen den beiden. Ich tanze mal mit dem einen, dann mit dem anderen und die beiden schubsen sich gegenseitig weg und so etwas", erklärte sie und Jonathan versuchte, sich die Situation vorzustellen. „Ist es lustig?", fragte er und schnell nickte sie. „Ja, ich glaube Karim zieht Daniel einmal am Ohr und so etwas, aber das müssen die beiden noch proben", erklärte sie, doch dann rutschte sie ein wenig auf ihrem Stuhl zurecht, warf einen Blick über die Schulter und sah ihn fragend an. Schnell nickte er, damit sie anfing. Sie spielte die ersten Takte des Liedes, doch dann stand sie in einer eleganten Bewegung von dem Klavierstuhl auf und fing an zu tanzen. Obwohl sie allein war und so tat, als würde sie mit einem der anderen interagieren, konnte er es sich doch gut vorstellen, wie es am Ende aussehen sollte. Die ganze Zeit hatte er ein Grinsen auf den Lippen, denn obwohl es anders war, als das, was er sie bisher hatte tanzen sehen, gefiel es ihm. Nach wenigen Minuten blieb sie außer Atem vor ihm stehen und stemmte die Hände in die Hüften. „Es ist noch nicht ganz perfekt und mit den anderen beiden wirkt es auch anders aber... was sagst du?", fragte sie und sah ihn an, als erwartete sie, dass er etwas Negatives sagen. „Das sah cool aus! Anders, als das, was du mir bisher gezeigt hast, aber cool", sagte er ehrlich, doch Sheila lachte verlegen. „Es ist nur unausgereift. Aber kannst du dir vorstellen, dass die Jungs schicke Anzüge mit Fliegen tragen und ich habe so ein langes Kleid, das beim drehen fliegt", erklärte sie und er konnte es sich gut vorstellen. „Wie heißt diese Tanzrichtung?", fragte er und sie kicherte, als hätte er etwas Dummes gefragt. „Naja, das meiste entspringt unserer Fantasie, aber man könnte es am ehesten mit Swing vergleichen", sagte sie, kam auf ihn zu und setzte sich auf seinen Schoß. Sofort legte er seinen Arm um sie. „Ich bin so gespannt, wie es auf der Bühne aussehen wird", schwärmte er und sah Sheila vor seinem inneren Auge auf der Bühne. Sie sah immer so glücklich aus, wenn sie tanzte. „Allerdings muss ich dazu hohe Schuhe anziehen", sagte sie dann und kratzte sich am Kopf. „Ist das schwieriger?", fragte er, doch sie nickte nur. „Ja, vor allem weil ich es nicht gewohnt bin", antwortete sie und erst da fiel ihm auf, dass er sie noch nie in wirklich hohen Schuhen gesehen hatte. Unwillkürlich breitete sich ein Grinsen auf seinen Lippen aus, denn wenn er daran dachte, wie ihre schlanken Beine in High Heels zu Geltung kamen. „Ich weiß zwar nicht, an was du gerade denkst, aber hör auf so dämlich zu grinsen", beschwerte sie sich und stupste ihn an der Schulter an, doch dann kicherte sie. „Ich habe daran gedacht, wie gut dir High Heels stehen würden", gestand er und spürte, dass er rot wurde. Nun lachte sie laut auf und er war es, der sie an der Schulter anstupste. „Aber sobald ich ein paar Schritte laufe, sehe ich ganz und gar nicht mehr sexy aus, sondern ziemlich bescheuert", lachte sie, doch Jonathan konnte sich gut vorstellen, dass sie in hohen Schuhen laufen konnte. Immerhin hatte sie jahrelang in Spitzenschuhen getanzt, was waren da schon ein paar High Heels? „Du siehst bestimmt nicht bescheuert aus", gab er zurück, doch sie gluckste. Sheila schmiegte sich an ihn und sofort breitete sich eine Wärme in ihm aus. Es schien in diesem Moment alles so perfekt zu sein und ihre Streitereien kamen ihm unendlich weit weg vor. „Lass uns nicht mehr streiten, okay?", fragte er leise an ihrem Ohr und spürte, wie sie nickte. Wahrscheinlich ging ihr in diesem Moment etwas ähnliches durch den Kopf. Irgendwie schafften sie es doch trotz all dem Stress irgendwie gemeinsam durch das Trümmerfeld zu laufen. Abgesehen davon, dass er selbst sich wie ein Trottel aufgeführt hatte, kam es ihm so vor, als würde um sie herum alles zusammenbrechen und nur sie beide würden zusammen unbeschadet durch alles hindurch kommen. Diese ganze Sache mit Matthias, die wahrscheinlich gerade erst anfing, dazu kam noch Ville der Sheila offensichtlich zurückgewinnen wollte und Karima, die ihn nicht in Ruhe lassen wollte. Doch all das konnte nichts daran ändern, dass sie zusammen hielten. Jonathan spürte, wie Sheila ihre Hand auf seine Brust legte und als wüsste sein Herz, dass sie es spüren wollte, hämmerte es fest gegen ihre Handfläche. 

Slice of Life - A New Life (in Überarbeitung)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt