Kapitel 98 - Slice of Life - A New Life

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Jonathan hasste sein Leben in diesem Moment mehr als alles andere auf der Welt. Ausgenommen von Sheila und Leonard vielleicht. Er war so wütend, dass er am liebsten geschrien hätte, doch er riss sich zusammen. Allerdings machte der Restalkohol in seinem Blut es nicht gerade leichter. Er trat das Gaspedal durch und betete, dass er nicht in eine Polizeikontrolle geriet. Eigentlich hatte er keine Ahnung, wo er hinfahren sollte, doch er wollte erst einmal weg von hier. Weg von Sheila. Nachdem er eine Weile über die Landstraße gefahren war, hielt er auf einem kleinen Parkplatz an. Ohne dass er es verhindern konnte, schrie er, bis sein Hals wehtat. Warum tat sie ihm so etwas an? Sein Herz war schon stehen geblieben, als er die beiden draußen hatte sitzen sehen. Doch als er gesehen hatte, dass Sheila gerade dabei war, Leonards Hand in ihre Hose zu schieben, war er fast verrückt geworden. Wer wusste schon, wie lange das zwischen den beiden schon lief. Seine Gedanken wanderten wieder an den Abend zurück, als Sheila den Unfall gehabt hatte. Sie hatte nur einen ziemlich knappen Schlafanzug an, als er nach Hause gekommen war. Bis vor einer halben Stunde hatte er noch fest geglaubt, dass nichts zwischen ihnen war, doch jetzt war er sich gar nicht mehr so sicher. Was, wenn es wirklich schon länger ging und Sheila gar nicht sicher sagen konnte, von wem sie schwanger war? Bei dem Gedanken drehte sich ihm der Magen um. Jonathan fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und wischte die Tränen weg, dann atmete er ein paar Mal tief durch. Was sollte er nun tun? Er hatte kein Geld dabei. Super. Doch zurückfahren wollte er auch nicht. Zumindest nicht in den nächsten Stunden. Als hätte er es heraufbeschworen spürte er, wie sein Handy in seiner Hosentasche vibrierte. Er zog es heraus, doch als er Sheilas Namen auf dem Display las, drückte er den roten Hörer. Sollte sie ruhig ein schlechtes Gewissen haben. Doch keine fünf Sekunden später rief sie schon wieder an. Wieder lehnte er den Anruf ab, dann warf er sein Handy auf den Beifahrersitz und lehnte den Kopf an die kühle Scheibe des Seitenfensters. Er hörte, wie sein Handy noch ein paar Mal vibrierte, doch dann gab sie anscheinend auf. Genau wie Jonathan. Er hatte wirklich geglaubt, dass es nach einer kurzen Auszeit wieder wie früher sein würde. Doch jetzt glaubte er nicht mehr daran. Sollte sie doch mit Leonard zusammen sein, es war ihm egal. Zwar schmerzte sein Herz, doch die Wut war größer. Jedoch war ihm durchaus bewusst, dass er noch betrunken war und eigentlich nicht über solche Dinge nachdenken sollte. Dafür brauchte er einen kühlen Kopf. Er verschränkte die Arme vor der Brust und setzte sich halbwegs bequem auf den Sitz und schloss die Augen. Vielleicht würde er für ein zwei Stunden schlafen können, dann wäre hoffentlich seine blinde Wut verschwunden und er könnte rational denken. Noch ein paar Mal machte sich sein Handy bemerkbar, bis er es auf lautlos stellte.

Ein lautes, prasselndes Geräusch riss Jonathan aus einem unruhigen Schlaf. Er schlug die Augen auf, doch im ersten Moment wusste er nicht so recht, wo er war. Verwirrt blickte er sich um, dann fiel ihm wieder ein, was gestern Abend passiert war. Er saß verkrampft in seinem Auto und er spürte schon jetzt, dass seine Muskeln schmerzten. Außerdem dröhnte sein Kopf und er hatte einen fiesen Geschmack im Mund. Draußen regnete es in Strömen und das penetrante Geräusch des Regens, der auf das Auto prasselte verursachte nur noch stärkere Kopfschmerzen. Sein Blick wanderte zum Beifahrersitz, wo sein Handy noch immer lag. Er hatte keine Ahnung, wie viel Uhr es war und der wolkenverhangene Himmel ließ nur schwer eine Schätzung zu. Er griff nach seinem Handy und befürchtete, dass der Akku leer war, doch es leuchtete auf, als er die Taste drückte. Zwar hatte es nur noch 9 Prozent, doch so konnte er einen Blick auf die Uhr und die unzähligen verpassten Anrufe und Nachrichten werfen. Es war halb sieben Uhr morgens und Sheila hatte sieben Mal angerufen. Außerdem Leonard, aber nur zwei Mal. Kurz blitzte vor ihm das Bild von gestern Abend auf, wie sie da auf der Treppe gesessen und sich befummelt hatten. Erstickende Wut stieg wieder in ihm auf, doch er drängte sie zurück. Er musste klar denken und entscheiden, was er nun tun sollte. Er beschloss, Sheilas Nachrichten zu lesen. „Bitte komm zurück und lass es mich erklären. Ich weiß, es war dumm und ich hätte es nicht tun sollen, aber es ist nicht so, wie denkst", schrieb sie, danach noch ungefähr fünf Mal das Gleiche, jedes Mal etwas verzweifelter. Es ging ihr schlecht und sie hatte ein schlechtes Gewissen. Doch wenn es nicht so war, wie es aussah, warum hatte sie dann ein schlechtes Gewissen? Einerseits tat es ihm weh, dass es ihr offensichtlich so schlecht ging, doch auf der anderen Seite freute es ihn. Es war gemein und er sollte so nicht denken, doch sie hatte eindeutig einen Fehler gemacht. Niemandes Hand aus seiner eigenen hatte in ihrer Hose etwas zu suchen, so einfach war das. Sie wusste, dass er so darüber dachte und dennoch hatte sie es zugelassen. Sein Akku näherte sich dem Ende, doch er klickte noch auf die Nachricht, die Leonard ihm geschrieben hatte. Obwohl Sheila seine Hand geführt hatte, fragte Jonathan sich, ob es wirklich von ihr ausgegangen war. Leonard mochte Sheila ein wenig zu sehr, das wusste er, doch eigentlich hatte Sheila bisher immer geleugnet, mehr für ihn zu empfinden. „Bitte fahr zu ihr nach Hause und lass es sie erklären. Es war meine Schuld, sie kann nichts dafür. Sie ist fix und fertig und braucht dich", schrieb er, doch Jonathan schnaubte nur. Erst machte er sich an seine Frau ran und dann wollte er ihm auch noch Ratschläge geben? Jonathan schob sein Handy in die Hosentasche, ohne einem von beiden zu antworten. Sollte er zu ihr zurückfahren? Er musste zwangsläufig zurück, denn er hatte nichts bei sich. Vielleicht könnte er kurz zurückfahren und dann entscheiden, was er tun sollte. Je nach dem, wie sie reagierte. Doch da kam ihm auf einmal ein Gedanke, der ihm gar nicht gefiel. Als er vor ein paar Tagen mit einem Knutschfleck am Hals aufgetaucht war, hatte sie es ihn auch erklären lassen. Sicher, sie war sauer gewesen, doch sie hatte sich seine Geschichte angehört und sie hatte ihm sogar geglaubt. Doch andererseits wollte er wütend auf sie sein. Das machte es viel leichter, sie ein paar Tage allein zu lassen. Doch gleichzeitig würde er in seiner Auszeit den Kopf nicht freibekommen, wenn er die ganze Zeit darüber grübelte, was nun zwischen Sheila und Leonard passiert war. Außerdem musste er sich bei ihr entschuldigen. Noch vor ein paar Stunden hatte sein von Alkohol benebeltes Hirn wirklich geglaubt, sie könnte ihn betrogen haben. Doch nun, nüchtern, kam ihm diese Idee absurd vor. Wäre er selbst nicht so genervt und ausgebrannt, wäre er niemals auf die Idee gekommen, Sheila könnte einen anderen Typen auch nur ansehen. Jonathan war sich durchaus bewusst darüber, dass viele Männer sie attraktiv fanden und ihr so manch einer auch einen vielsagenden Blick zuwarf, die sie jedoch allesamt ignorierte. Sie hatte nur Augen für ihn gehabt. Hatte sich das geändert, ohne dass er es richtig mitbekommen hatte? War er so unaufmerksam, dass sie nicht mehr glücklich mit ihm war? Es schmerzte, doch er musste sich diese Frage selbst mit einem Ja beantworten. Er hatte sie in letzter Zeit so oft zum Weinen gebracht, dass er es nur zu gut verstehen konnte, wenn sie unzufrieden war. Jonathan zog sein Handy wieder aus der Hosentasche und wählte ihre Nummer. Vielleicht würde sein Akku noch reichen, um ihr zu sagen, dass er nach Hause käme, um mit ihr zu reden. Mit pochendem Herzen lauschte er dem Tuten, doch es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich meldete. „Ja?", fragte sie und ihre Stimme klang tot. Das war das erste, was ihm einfiel, um sie zu beschreiben. Es klang, als hätte sie aufgegeben. „Ich habe nicht mehr viel Akku. Ich wollte dir nur sagen, dass ich nach Hause komme, um zu reden", sagte er und wartete auf eine Antwort. Einige Sekunden blieb es still. „Okay", flüsterte sie noch, dann war sein Handy aus. Panik breitete sich in ihm aus. Irgendetwas an ihrem Ton beunruhigte ihn, denn so leblos und kalt hatte er sie noch nie gehört. Obwohl sie nur zwei Worte gesagt hatte, war ihm sofort klar, dass etwas ganz und gar nicht stimmte. Sofort schossen ihm tausend Gedanken durch den Kopf, einer schlimmer als der andere. Hatte sie ihm die Taschen gepackt und wartete nur darauf, dass er sie abholte? Schmiss sie ihn raus und sagte ihm gleich, dass sie ihn nie wieder sehen wollte? Obwohl es genau das war, was ihm gestern Abend durch den Kopf gegeistert war, bekam er nun Angst. Ja, er war wütend und er wollte sie ein paar Tage nicht sehen. Doch ein Leben ganz ohne sie? Nein, das konnte und wollte er sich nicht vorstellen. Nicht, wenn er ehrlich zu sich war. Sie führten doch eigentlich eine glückliche Ehe, zumindest bis er eine Krise bekommen und alles kaputt gemacht hatte. Zwar hätte Sheila auch so manches anders machen können, doch vielleicht hatte er das alles selbst provoziert. War ihr Handeln nur eine Reaktion auf seines? Mit zitternden Fingern drehte er den Zündschlüssel herum und startete den Motor. Er versuchte ruhig zu bleiben, doch es gelang ihm nur schwer. Wenn diese Ehe in die Brüche ging, war das ganz allein ihm und seinem bescheuerten, unüberlegten und vor allen unreflektierten Verhalten zuzuschreiben. Und dieser Gedanke versetzte ihn in Panik. 

Slice of Life - A New Life (in Überarbeitung)Where stories live. Discover now