Kapitel 101 - Slice of Life - A New Life

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Irgendwie schaffte Sheila es, die Tränen zurückzuhalten. Doch gleichzeitig fühlte sie sich schlecht, ihn weggeschickt zu haben. Sicher, es war richtig gewesen und je länger sie es hinauszögerten um so schlimmer wurde es. Sie hatte den Kampf in seinem Innern nur zu gut erkennen können. Er wollte ihr nicht wehtun und doch war er im selben Moment aus irgendeinem Grund wütend und wollte genau das tun. Dennoch wusste sie, dass sie ihn liebte und bei ihm bleiben wollte, denn er würde seinen Frust auch wieder verlieren. Sheila lenkte ihren Wagen auf den Schotterparkplatz des Varietés und schaltete den Motor aus. Sie hatte noch ein paar Minuten Zeit, bis ihre Schicht anfing und sie griff nach ihrer Handtasche auf dem Beifahrersitz und holte ihr Handy heraus. Beinahe hatte sie erwartet, dass Jonathan ihr schrieb, doch sie wurde enttäuscht. Obwohl sie ihn weggeschickt hatte, sehnte sie sich doch nach ihm und sie hoffte, dass es ihm genau so ging. Stattdessen hatte sie eine Nachricht von ihrem Bruder. Sheila klickte auf die Nachricht und spürte, wie sich ihr schlechtes Gewissen meldete. Zwar war er gestern nicht wirklich nett zu ihr gewesen, doch auch er schien mit den Nerven am Ende zu sein. „Melde dich doch mal, wenn du Zeit hast", schrieb er nur und kurz wägte sie ab, wie sie sich verhalten sollte. Ja, er war gemein gewesen, doch er war immer noch ihr Bruder und er hatte auch zu ihr gehalten, als es ihr schlecht gegangen war. Sie würde nicht mehr genug Zeit haben, um mit ihm zu telefonieren, also schrieb sie ihm eine Nachricht. „Ich könnte nach der Arbeit vorbeikommen", schrieb sie und sofort färbten sich die kleinen Häkchen in der Ecke blau. Matthias hatte anscheinend auf ihre Nachricht gewartet. „Okay, wann kommst du? Soll ich was zu Essen besorgen?", antwortete er. Bei ihm war es genau wie mit Jonathan. Sie beide wechselten ständig von einem Extrem ins Andere, sodass es jedem um sie herum schwerfiel, mit ihnen umzugehen. Sie schrieb ihm noch, dass sie um halb sechs bei ihm sein würde und er bloß nichts kochen solle, doch über etwas zu Essen würde sie sich freuen. Denn heute Morgen hatte sie ganz vergessen, sich etwas zu essen einzupacken. Wie auf Kommando knurrte ihr Magen und sie beschloss noch schnell in der Küche vorbei zusehen, ob sie sich etwas holen konnte. Normalerweise ließ der Koch immer etwas für die Mitarbeiter in der Küche stehen, doch meistens hatte sie keine Zeit, auf der Arbeit zu essen. Sie schnappte sich ihre Handtasche und ging über den roten Teppich zum Eingang. Gerade als sie den Eingangbereich des Varietés betrat, kam Karim aus der Küche. Sheila winkte, denn sie freute sich, ihn zu sehen. Vielleicht konnte er sie ein wenig ablenken. Er schob sich gerade den letzten Bisschen von einem Sandwich in den Mund, dann erwiderte er ihren Gruß. „Gibt es davon noch mehr?", fragte sie, woraufhin er sie einen Moment verwirrt ansah. Doch dann schien er zu begreifen, kaute und schluckte. „Ja, in der Küche gibt es noch jede Menge", sagte er und sie machte sich auf den Weg. Sie spürte, dass er ihr folgte und sie warf einen Blick über die Schulter. „Ich hatte keine Zeit mehr, etwas zu frühstücken", erklärte sie, während sie den vorderen Bereich der Küche betraten. Auf der grauen Anrichte aus Metall standen mehrere große Teller mit Sandwiches darauf. Sie nahm sich eines und biss genüsslich hinein. Karim lachte leise in sich hinein, dann bedeutete er ihr mit einer Handbewegung, ihm zu folgen. Während sie weiter aß, führte er sie zurück in die Eingangshalle und ließ sich auf dem Tresen vor der Garderobe nieder. Sheila lehnte sich mit dem Rücken dagegen und musterte ihn. Irgendetwas schien ihn zu bedrücken, denn er starrte auf seine Hände, die er miteinander verschränkt hatte. „Alles okay?", fragte sie neugierig und gleichzeitig ein wenig besorgt, denn wenn er in der letzten Zeit besorgt war, hatte es immer etwas mit seiner Schwester zu tun gehabt. Er seufzte, dann sah er sie mit seinen dunklen Augen an. Sheila schluckte den letzten Bissen ihres verspäteten Frühstücks hinunter und wischte sich die Krümel vom Hemd. „Ach, es ist wieder wegen meiner Schwester", bestätigte er ihre Vermutung und sofort fühlte sie sich, als würde sich eine bleierne Decke auf ihre Schultern legen. „Was ist denn mit ihr?", fragte sie bemüht ruhig, doch ihre Stimme zitterte. Karim rang mit sich, doch dann atmete er tief durch, wie um sich zu wappnen. „Sie liegt mir die ganze Zeit wegen deinem Mann in den Ohren. Sie schwärmt rund um die Uhr von ihm", sagte er dann und Sheila fiel ein Stein vom Herzen. Das war nicht wirklich überraschend und es hätte deutlich schlimmer kommen können. „Sie wartet, dass er sich bei ihr meldet, damit sie sich verabreden können. Ich weiß nicht, ob du darüber etwas weißt, aber ich versuche ihr, die Hoffnung zu nehmen. Aber du weißt ja, wie sie sein kann", fuhr er fort, dann sah er sie beinahe ängstlich an, als erwartete er, dass sie sich in eine Furie verwandeln würde. Doch eigentlich machte es ihr gar nichts mehr aus. Sie wusste ja schon, dass Jonathan sich noch einmal mit ihr treffen wollte, um die Sache abschließend zu klären. „Er will sich noch einmal mit ihr treffen und die Sache klären", sagte sie dann und Karim riss überrascht die Augenbrauen hoch. „Ach was? Und... ich meine... du bist damit einverstanden?", fragte er nach, doch Sheila zuckte nur die Schultern. Sie hatte keine Kraft mehr, sich darüber aufzuregen. „Es wäre mir schon lieber, wenn er es sein lassen würde, doch er kann tun und lassen, was er will", sagte sie, was Karim nur noch verwirrter aussehen ließ. „Wie meinst du das?", fragte er vorsichtig und Sheila begriff, dass er glaubte, sie hätten sich getrennt. „Ich meine damit, dass er es mir gesagt hat. Er will ihr die Chance geben, sich zu erklären. Und das ist auch in meinem Interesse, wenn sie ihn dann in Ruhe lässt", erklärte sie und Karim nickte langsam. „Wenn sie so drauf ist wie heute glaube ich nicht, dass sie ihn dann in Ruhe lassen wird", erwiderte er. Sheila schluckte. „Warum glaubst du das?", wollte sie wissen. Karim sah sich suchend um, als ob er ein paar unerwünschte Zuhörer vermutete, doch sie waren allein. „Naja, so hat sie auch ihren Mann herumbekommen. Sie hat ihn so lange genervt, bis sie zusammengekommen sind. Er ist vor ein paar Monaten bei einem Unfall gestorben und seit dem sucht sie sich auf ihre Art jemand Neues", sagte er, doch Sheila schüttelte den Kopf. Die Vorstellung, Jonathan könnte auf ihre doch sehr plumpen Versuche eingehen, ließ sich einfach nicht mehr seiner Art vereinbaren. Er war nicht der Typ, der von so etwas beeindruckt war und außerdem war sie sich recht sicher, dass er an ihrer Ehe festhielt. „Er wird sich nicht darauf einlassen, das weiß ich. Allerdings ist er manchmal nicht wirklich gut darin, konsequent zu sagen, was er will", erwiderte sie, doch Karim schenkte ihr nur einen entschuldigenden Blick. „Ich werde versuchen, sie nicht allein zu dem Treffen gehen zu lassen und wenn du willst, sage ich dir Bescheid, wenn irgendetwas...", setzte er an, doch Sheila unterbrach ihn. „Es wird nichts passieren, ich vertraue ihm", sagte sie und meinte es durchaus ernst. Obwohl er sie allein in den letzten Tagen unzählige Male verletzt hatte, glaubte sie nicht, dass er ausgerechnet etwas mit Karima anfangen würde. Denn immer wenn er von ihr sprach, war er genervt und außerdem wusste sie, dass er sie nicht attraktiv fand. Nicht, dass sie hässlich war, aber sie war einfach nicht sein Typ. Karim nickte langsam, doch er schien anderer Meinung zu sein als sie. „Okay, wenn du dir so sicher bist. Ich will nur nicht, dass du verletzt wirst", sagte er dennoch und sein Blick wurde weich. Sheila zwang sich zu einem Lächeln, denn wenn er wüsste, was Jonathan ihr allein gestern an den Kopf geworfen hatte, würde er vielleicht anders über ihn denken. „Ich muss noch meine Tasche wegbringen", sagte sie dann und stieß sich von dem Tresen ab. Auch Karim sprang herunter, doch bevor sie in Richtung Spindraum gehen konnte, hielt er sie am Arm fest. Ein wenig überrascht wandte sie sich zu ihm um. „Hast du morgen für eine Probe für die Vorführung Zeit? Um zehn?", fragte er dann und beinahe hätte Sheila laut gelacht. Sie hatte noch etwas über Karima erwartet, doch anscheinend wollte Karim sie damit nicht noch mehr belasten. „Ja, zehn Uhr klingt gut", sagte sie und erst da fiel ihr ein, dass sie noch gar nicht nachgesehen hatte, wie sie nächste Woche arbeiten musste. „Cool, dann bis später mal", sagte er noch, dann ließ er ihren Arm los und verschwand in Richtung Küche. Auch Sheila machte sich auf den Weg zum Spindraum, wo sie ihre Tasche einschloss und noch einmal ihre Arbeitskleidung richtete. Obwohl sie gerade eben bei Karim ziemlich locker gewesen war, kamen ihr nun Zweifel. Doch wenn sie ehrlich zu sich war, glaubte sie wirklich nicht, dass Jonathan irgendetwas tun würde. Außerdem hatte er ihr versprochen, dass er ihr ganz genau erzählen würde, wie es gelaufen war. Sheila schüttelte den Kopf, um die negativen Gedanken loszuwerden und machte sich auf den Weg zu der Stelle in der Nähe des Technikbereiches, wo die Schichtpläne hingen. Vor einigen Monaten war André dazu übergegangen, für jeden einen persönlichen Plan auszustellen, denn hin und wieder kam es vor, dass manche es nicht hinbekamen, sich ihre Schichten ordentlich abzuschreiben. Sheila suchte sich aus dem Halter an der Wand den Plan mit ihrem Namen darauf heraus und betrachtete ihn. Wäre es eine ganz normale Woche, würde sie sich darüber freuen, dass sie nächstes Wochenende komplett frei hatte, doch irgendwie machte es sie nervös. Wenn sie Jonathan richtig verstanden hatte, wollte er nächstes Wochenende seine Eltern einladen, also plante er, spätestens dann zurück zu sein. Was wiederum bedeutete, dass sie das ganze Wochenende Zeit hatten, sich zu streiten. Oder hoffentlich nicht mehr zu streiten. Sheila versuchte sich die anderen Tage einzuprägen, dann schob sie sich den zusammengefalteten Zettel in die Hosentasche und machte sich an die Arbeit. 

Slice of Life - A New Life (in Überarbeitung)Where stories live. Discover now