Kapitel 15 - Sheila

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Als Sheila um kurz nach halb ein Uhr nachts von der Arbeit nach Hause kam, fielen ihr gleich die drei Paar Schuhe im Flur auf, die hier eigentlich nicht hingehörten. Eines davon musste eindeutig einem kleinen Mädchen gehören. 

Sie stieg aus ihren Schuhen und hörte gedämpfte Stimmen aus dem Wohnzimmer. Sie erkannte Jonathan, der auf jemanden einzureden schien. Neugierig ging sie den Flur entlang und folgte dem Lichtschein aus dem Wohnzimmer. Ein ungutes Gefühl überkam sie und ihre Müdigkeit von eben war wie weggeblasen. 

Sie öffnete die Tür und ging hinein und zu ihrer Überraschung saß Matthias mit dem Gesicht in den Händen vergraben im Wohnzimmer auf dem Sofa. Jonathan saß auf dem Boden genau vor ihn und redete eindringlich auf ihn ein. Als Jonathan sie bemerkte, warf er ihr einen hilfesuchenden Blick zu. Sheila schluckte, denn offensichtlich war Matthias mit den beiden Kindern hier. 

„Hey", sagte Sheila leise und setzte sich neben ihren Bruder. Erschrocken riss er den Kopf hoch, denn offensichtlich hatte er sie bisher noch nicht bemerkt. Matthias sah sie panisch und verzweifelt an, dann vergrub er wieder das Gesicht in den Händen. 

„Was ist los?", fragte sie Jonathan, der ihr mit einer Handbewegung bedeutete, ihr in die Küche zu folgen. Ächzend erhob er sich vom Boden und Sheila ging ihm hinterher in die Küche. Sie lehnte sich gegen die Arbeitsfläche und verschränkte die Arme vor der Brust. Natürlich fand sie es nicht schlimm, dass ihr Bruder hier war, doch eigentlich hatte sie nach der Arbeit mit Jonathan etwas anderes vorgehabt. Sie spürte, wie er seine Hände an ihre Taille legte und sie sanft umarmte. 

„Was ist los?", wiederholte sie leise, damit Matthias sie nicht hörte. Jonathan löste sich wieder von ihr, dann fuhr er sich mit den Händen übers Gesicht. 

„Als ich aus dem Studio kam, saßen Duygu und Aaliyah vor der Tür. Sie sind von Esra abgehauen, weil sie Angst vor ihrem neuen Freund haben. Sie haben sich anscheinend gestritten, weil er nicht zulassen will, dass Matthias die Kinder sieht. Ich habe ihn angerufen und er ist hergekommen. Es war da schon halb zehn und gerade als sie losfahren wollten, hat Jonas angerufen, dass Esras Typ unten vor der Haustür steht und randaliert. Ich habe ihnen angeboten, dass sie erst einmal hierbleiben können. Die Kinder schlafen und wir sollten sie nicht mitten in der Nacht wecken", berichtete er dann mit gedämpfter Stimme. Sheilas Kinnlade fiel mehr und mehr nach unten. Als ihr Bruder ihr heute Mittag von Esras neuem Freund erzählt hatte, dachte sie noch, dass er vielleicht übertreiben würde. Doch offensichtlich hatte er es nicht und es war wirklich schlimm. 

„Hat Jonas die Polizei gerufen?", wollte sie wissen und Jonathan nickte. 

„Ja. Jonas hat ihnen nicht gesagt, dass sie hier sind. Hoffentlich fahren sie nicht einfach alle Möglichkeiten ab. Wo sollten sie sonst hin außer zu uns oder deinem Vater?", fuhr er fort und zog die Augenbrauen zusammen. Sheila schluckte. Sie wollte nicht, dass irgendein Schlägertyp bei ihr auftauchte. 

„Hoffentlich verrät Esra ihm nicht, wo sie sein könnten", sagte sie. 

„Hoffen wir es. Aber die beiden müssen das irgendwie klären. Wenn Duygu schon abhaut, muss es wirklich schlimm sein", sagte er und sah sie wieder so an, als hätte sie für all das eine Lösung. 

„Matthias war heute Mittag schon hier. Er hat mir von ihrem neuen Freund erzählt, aber dass er so schlimm ist, habe ich nicht gedacht. Ich habe sie angerufen, aber er ist an ihr Handy gegangen und hat gesagt, dass sie keine Zeit hätte", berichtete sie. Jonathan seufzte. 

„Wir sollten alle langsam mal schlafen gehen und bis morgen abwarten. Matthias bringt die beiden morgen in die Schule und in den Kindergarten und dann will er versuchen, mit Esra zu reden", sagte er und Sheila nickte. Gegen Schlaf hatte sie absolut nichts einzuwenden. Außerdem konnten sie im Moment nichts mehr machen. 

„Okay. Ich rede noch kurz mit ihm", sagte sie dann und machte eine Kopfbewegung in Richtung Matthias. 

„Mach das. Er ist wirklich verzweifelt", warnte er sie, doch Sheila hatte nichts anderes erwartet. Sie drückte Jonathan einen schnellen Kuss auf den Mund, dann ging sie zu Matthias zum Sofa und setzte sich neben ihn. Noch immer saß er unverändert da. 

„Hey, du solltest auch ein bisschen schlafen. Morgen wird sich bestimmt alles klären", versuchte sie es, doch er schüttelte nur den Kopf. 

„Sie wird nicht mit mir reden wollen", nuschelte er, doch Sheila schnalzte mit der Zunge. Auf einmal war ihr eine Idee gekommen. Sie wusste nicht so recht, was er davon halten würde und ob es Esra gegenüber fair war, aber es war im Prinzip die einzige Möglichkeit, die er hatte. 

„Vielleicht kannst du sie bitten, allein zu einem Treffpunkt zu kommen. Du kannst ihr erklären, dass Duygu mit Aaliyah abgehauen ist, weil sie Angst hatte. Ich bin sicher, dass sie das zur Vernunft bringt", fing sie an, doch er unterbrach sie. 

„Er wird sie nicht allein kommen lassen", warf er verbittert ein und fuhr sich verzweifelt durch die Haare. 

„Du könntest die beiden so lange im Auto lassen, dann kann er sie nicht mitnehmen. Du... du könntest sagen, dass du sie erst nach Hause zurücklässt, wenn sie keine Angst mehr haben müssen und ihr das mit deiner Besuchszeit geklärt habt", schlug sie vor und spürte, dass Matthias dieser Vorschlag gar nicht gefiel. 

„Ich will sie nicht in Gefahr bringen, indem ich ihr ein Ultimatum gegen ihren Freund setze. Hinterher schlägt er sie noch", sagte er tonlos, doch Sheila sah in seinem Gesicht, dass er sich wirklich Sorgen machte. 

„Ich könnte mitkommen. Und wenn Papa und Lisa am Sonntag zurückkommen, dann werden sie dir auch helfen", sagte sie, doch Matthias schüttelte den Kopf. 

„Nein, du hältst dich da raus", sagte er bestimmt. Sheila wusste, dass Jonathan das auch so sehen würde, aber sie wollte ihrem Bruder helfen. 

„Ich habe Erfahrung mit Schlägertypen", versuchte sie einen lahmen Scherz, was Matthias mit der Zunge schnalzen ließ. 

„Ich überlege mir bis morgen etwas", sagte er, dann endlich sah er ihr in die Augen. Obwohl er es nicht aussprach, wusste sie, dass er sich bedanken wollte, dass sie und Jonathan für ihn da waren. 

„Na gut. Aber jetzt solltest du schlafen", sagte sie noch und ließ sie ihn allein. 

„Ich hole dir eine Decke und ein Kissen", sagte sie über die Schulter zu ihm und lief schnell nach oben ins Schlafzimmer. Kaum dass sie das Wohnzimmer verlassen hatte, hörte sie, wie Jonathan aus der Küche kam und noch etwas zu Matthias sagte. Sheila war klar, dass er gelauscht hatte. Eigentlich mochte sie das nicht, doch Jonathan hatte das schon immer getan. Er hatte ihr mal erklärt, dass er so direkt wusste, wenn sie sich in Schwierigkeiten gebracht hatte, was in der Vergangenheit tatsächlich ein paar Mal vorgekommen war, weil sie ihre Klappe nicht halten konnte. Trotzdem mochte sie es nicht wirklich. 

Sie schnappte sich aus dem Kleiderschrank die Ersatzdecke und ein Kissen und bezog sie schnell, dann lief sie wieder nach unten. Im Flur begegnete sie Jonathan, der ihr einen ernsten Blick zuwarf. Sie ignorierte ihn vorerst und brachte ihrem Bruder das Bettzeug. Matthias nahm es wortlos entgegen und warf es auf das Sofa. 

„Ist das wirklich okay, wenn wir zumindest heute Nacht hier bleiben?", fragte er leise und Sheila nickte. 

„Natürlich ist das okay, mach dir darüber mal keine Gedanken", erwiderte sie und lächelte ihn an. Er erwiderte es nicht sondern nickte nur langsam. 

„Ich rufe mal Jonas an, wie es ihm zu Hause geht", sagte er, dann wandte er sich von ihr ab und setzte sich auf das Sofa. 

„Okay. Bis morgen früh dann. Wann müsst ihr aufstehen?", fragte sie, denn sie würde sich ebenfalls einen Wecker stellen. Kurz überlegte er, dann sah er sie entschuldigend an. 

„Ich sollte um sieben Uhr hier los fahren. Duygu hat ihre Schulsachen noch bei Esra", antwortete er. 

„Zur Not geht sie ohne ihre Schulsachen. Einen Block und einen Stift habe ich zur Not auch", gab sie zurück und Matthias nickte, als würde ihm dieser Vorschlag besser gefallen, als direkt morgens zu Esra zu fahren. 

„Gute Nacht", sagte sie noch, dann ließ sie ihn allein.

Slice of Life - A New Life (in Überarbeitung)Where stories live. Discover now