54{Was bleibt bin ich}

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Ich kam spät daheim an und hoffte, dass Mum und Jason bereits schliefen. Ich wollte so schnell wie nur möglich ins Bett, ohne auch noch ein Wort loszuwerden, für heute hatte ich genug gesprochen. Also drehte ich den Schlüssel so langsam wie es mir nur möglich war, im Schloss um, um ja keine Geräusche zu verursachen. Erleichtert atmete ich aus, als ich die Tür aufgeschlossen hatte. Mit leichten Schritten durchquerte ich das Haus, nachdem ich mir die Schuhe ausgezogen hatte, um wirklich keine lauten Geräusche zu verursachen. In meinem Zimmer angelangt, atmete ich all die angestaute Luft aus und schloss die Tür zu meinem Zimmer ab.

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Am nächsten Morgen verließ ich das Haus in aller Frühe, denn ich war mit Hannah zum lernen verabredet. In zwei Wochen standen die Prüfungen an und wir mussten noch einiges lernen. Claire verbrachte das Wochenende bei ihren Großeltern, sonst würde sie sich heute mit uns in unserem Lieblingscafé, dem Adéláde's treffen. Für die nächsten zwei Wochen nahm ich mir vor so viel Zeit wie möglich in das Lernen zu stecken. Zudem hatten wir gestern unseren letzten Schultag und konnten uns nun in aller Ruhe auf die anstehenden finalen Prüfungen vorbereiten. Einerseits war ich froh, dass wir es bald hinter uns hatten und andererseits war ich traurig darüber. So gerne ich es auch abstreiten wollte, dass der Umzug hierher das Verhältnis von Jenny und mir verschlechtert hatte, wusste ich nun mal, dass es eben so war. Wir waren natürlich noch immer beste Freunde, aber anders als früher, erzählten wir uns nicht mehr alles bis ins kleinste Detail. Das war eben schwer wenn so eine große Entfernung zwischen uns lag und ich nahm es Jenny auch nicht übel, dass sie in letzter Zeit so distanziert gewirkt hatte. Ich war mir sicher, dass auch in ihrem Leben im Moment sehr viel los war, aber es machte mir zu schaffen, dass sie nicht mit mir darüber reden wollte, auch wenn sie mir mehrmals versicherte, dass alles gut wäre. Ich kannte meine beste Freundin und ich wusste, dass sie mir nicht die ganze Wahrheit verriet, aber ich wollte nicht, dass sie den Kontakt zu mir komplett mied, wenn ich ihr mit meinen Fragen auf die Nerven ging. Und so fühlte ich mich nicht bereit, ihr von dem Gespräch von gestern zu erzählen. Sie zeigte sich zwar betroffen, aber sie wollte nicht einmal mit mir FaceTimen oder telefonieren. Das taten wir sonst immer, wenn wir uns schon nicht in die Arme nehmen konnten, dann war der Anblick des anderen wenigstens ein Trost, um über die Distanz die zwischen uns lag hinwegsehen zu können. Also war meine Angst, dass auch meine Freundschaft mit Hannah und Claire den Bach runtergehen würde, wenn wir uns nicht mehr jeden Tag in der Schule sehen würden, berechtigt. Wen hätte ich dann noch? Der einzige Trost, den ich im Moment fand, lag darin dass ich endlich wusste, was ich mit meiner Zukunft anfangen wollte, aber dazu erzähle ich euch später mehr.

Als ich im Adéláde's ankam, saß Hannah bereits in unserer Stammecke, mit ihrem Laptop vor sich, auf dem Tisch aufgeklappt. Sie stand von der Sitzbank auf, sobald sie mich erblickte und zog mich in eine Umarmung.
»Ich habe uns schon Kaffee bestellt, aber bevor wir beginnen, musst du mir auf der Stelle erzählen, was gestern passiert ist und warum mich doch tatsächlich Jake Parker gestern Abend gefragt hat, ob du bei mir bist!« Amüsiert wackelte Hannah mit den Augenbraun und stützte ihren Kopf auf ihrer rechten Hand ab, als sie geduldig auf meine Antwort wartet.
»Das ist - kompliziert.« Das war das Einzige, dass ich nach langer Überlegerei herausbrachte. Es gab so viel zu erzählen, dass ich nicht einmal wusste, wo ich hätte anfangen sollen.
»Das ist es wirklich? Oder möchtest du es mir nicht erzählen?« Skeptisch blickte sie mich an. Ich wusste, dass sie Verständnis dafür haben würde, wenn letzteres zutreffen würde, doch so war es nun mal nicht. Wo hätte ich anfangen sollen, damit dass mein Vater uns damals verlassen hat? Oder lieber damit wie Jake und ich uns zum ersten Mal begegnet sind? Hätte ich vielleicht damit beginnen sollen, dass er und ich mehr Zeit miteinander verbracht hatten, als uns lieb war? Ich wusste es nicht.
»Nein, so ist es nicht. Es ist lediglich sehr viel, das in letzter Zeit passiert ist.«
»Und auch davon hast du nichts erwähnt.« Hannah drehte sich nun komplett zu mir und nahm besorgt meine Hände in ihre.
»Rachel, mir ist aufgefallen, wie schwer es dir diese Woche fiel dich zu konzentrieren und ich dachte das würde daran liegen, dass die Prüfungen immer näher rücken. Aber so langsam glaube ich nicht, dass es nur die Prüfungen sind, die dir zu schaffen machen oder? Ich möchte nur dass du weißt, dass du mit mir reden kannst. Und wenn es daran liegt, dass Claire mit deinem Bruder zusammen ist und du deshalb befürchtest, dass er etwas mitbekommen könnte, kann ich dich beruhigen. Wenn du nicht möchtest dass auch Claire etwas davon erfährt, dann kann ich es auch für mich bewahren, sofern dir das hilft.« Nachdem Hannah ihre Ansprache beendet hatte, zog sie mich in eine weitere Umarmung. Zeitgleich stellte die Kellnerin zwei Tassen heißen Kaffee auf unserem Tisch ab. Hannahs Worte bedeuteten mir viel und ich war ihr so dankbar dafür, denn plötzlich erschien es mir ganz einfach, über das zu reden, dass mich bedrückte. Vielleicht hatte ich einfach wirklich Angst, dass Jason Wind davon bekommen würde. Jake hatte mir gestern davon erzählt, wie er das Ganze mitbekommen hatte und wie Jason drauf war. Und vielleicht brauchte ich gerade einfach wirklich jemanden, der wirklich hier war und mit dem ich reden konnte, über alles.
»Na gut, dann lass es mich kurz fassen. Jason und Jake kennen sich schon seit Florida, bis Jake umgezogen ist. Sie hatten damals anscheinend fast täglich zusammen abgehangen. Seitdem wir hierhergezogen sind, haben sie wieder richtigen Kontakt und auch ich war mehr oder weniger gezwungen Zeit mit ihm zu verbringen. Er hat mir New York gezeigt, mir geholfen mich hier einigermaßen zurecht zu finden. Ich habe bei ihm geschlafen, als Jason das Haus für sich wollte. Megan schaute an diesem Tag bei Jake vorbei und musste mir natürlich eins auswischen, weil sie gedacht hatte, dass ich etwas mit Jake gehabt hätte. Danach hatte sie mir meine Kleidung nachdem Sportunterricht abgezogen, wie du weißt und daraufhin hatte ich ihr vor lauter Wut vorgelogen, dass wirklich etwas zwischen Jake und mir lief. Natürlich hat Jason das mitbekommen und war außer sich und hat Jake dafür eins übergehauen. Ich musste Jake erklären wofür das war und - und er hatte mich geküsst. Er sagte er wollte wenigsten einen Grund dafür, dass es sich gelohnt hatte, dass er von seinem besten Freund verprügelt wurde. Ich war sauer, aber dann kam es irgendwie dazu, dass - dass ich ihn geküsst hatte und dann hatte er mich wieder geküsst. Das war das Erste mal, genauer gesagt die ersten Male und auch die letzten Male, das wir uns geküsst hatten. Aber irgendwie sind wir Freunde geworden und da war schon immer diese Spannung in der Luft, die ich versucht hatte zu unterdrücken, zu verdrängen. Selbst als ich mit Dan zusammen war, konnte ich nicht aufhören an ihn zu denken. Er hatte sich irgendwie an mich gehangen und ich wurde ihn nicht los. Ich wollte es mir nur nie eingestehen und jetzt weiß ich nicht was ich tun soll Hannah. Ich bin mir nicht sicher, ob auch er so empfindet, oder ob ich es mir einbilde, weil es so möchte. Ich will diese Freundschaft nicht zerstören, nicht seine und meine aber auch nicht seine und Jason's.« Ganz bewusst ließ ich den Punkt raus, dass Jake und ich uns bereits vor Jahren begegnet waren. Das war eine der Erinnerungen, die ich gerne für mich behielt, nicht einmal Jenny hatte ich davon erzählt, obwohl ich ihr alles anvertraute. Aber das bedeutete mir einfach so viel, dass ich es gerne für mich behielt. Hannah saß die ganze Zeit über geduldig da und ließ mich in Ruhe zu Ende sprechen, während sie sich nicht darum kümmerte, dass ihr Kaffee kalt wurde, den sie sonst immer gerne heiß trank.
»Und dann ist da noch diese Sache mit Ben, meinem Vater. Er hatte uns damals verlassen und wir wussten dass er hierher, nach New York gezogen ist. Seitdem wir hier in New York sind, hat Jason hinter Mums und meinem Rücken nach ihm gesucht und ihn gefunden. Ben wollte aber nichts von uns hören, bis er vor einigen Wochen vor unserer Tür auftauchte. Jason schickte ihn weg und ich erfuhr davon, dass er ihn schon länger gefunden hatte. Wir stritten deshalb und der Streit hörte auch nicht auf, nachdem ich ihn nach seiner Adresse gefragt hatte. Er wollte seine Adresse nicht mit mir teilen, damit ich meine Zeit nicht verschwendete und so ging ich zu Jake, der von alledem wusste und Jason geholfen hatte. Jake half mir, ohne Widerrede. Das war letzte Woche. Er begleitet mich mit zu Ben und Ben erzählte uns viel, besonders warum er Jason damals weggeschickt hatte. Er hat Krebs im Endstadium, die Ärzte geben ihm nicht mehr lange. Ich habe Mum und Jason gestern davon erzählt und auch dass ich ihm eine Chance geben möchte, alles wieder gut zu machen. Aber beide, Mum und Jason, waren überhaupt nicht davon begeistert und ich konnte es mir nicht mehr anhören also bin ich rausgestürmt.« Damit beendete ich die Kurzfassung von alledem, dass mir gerade einfiel.
»Das tut mir so schrecklich leid Rachel, ich wünschte Jason und deine Mum würden es verstehen, oder dir zumindest keine Vorwürfe dafür machen. Gib ihnen die Zeit die sie brauchen, die auch du gebraucht hast, um diese Informationen zu verarbeiten, vielleicht verstehen sie es dann.« Das war das Dritte mal innerhalb von so kurzer Zeit, dass Hannah mich in ihre Arme schloss und ich war für jede davon dankbar. Ich hatte das Gefühl, dass jede einzelne davon mir ein Stückchen Kraft zurückgab, Kraft, die ich in letzter Zeit so dringend brauchte um das Alles zu bewältigen.
»Und wegen der Sache mit Jake, lass mich dir sagen, es ist besser es versucht zu haben, als ewig diese Gefühle zu unterdrücken und zu hoffen, dass sie verschwinden und sich später zu fragen, was gewesen wäre wenn du dich gewagt hättest, das macht es nur umso schwieriger. Auch wenn du Angst hast wegen deinem Bruder Rachel, vergiss nicht, dass auch er mit deiner Freundin zusammen ist.«

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Es war der nächste Montag, als ich mich einigermaßen bereit dazu fühlte, das Gespräch mit Ben zu suchen um ihn über meinen Entschluss in Kenntnis zu setzen. Ich hoffte, dass auch er das wirklich wollte und dass seine Krankheit nicht nur als Ausrede dienen sollte, um uns still zu halten. Denn ich wollte das wirklich und ich hoffte so sehr, dass er meine Hoffnungen nicht ein für alle mal zerplatzen ließ. Es war mir egal dass, ich diesen Schritt wohl ohne Mum und Jason gehen müsste. Am Ende des Tages ging es darum, dass ich mich glücklich machte und nicht Andere. Das war mir jetzt bewusst, denn ich hatte schon einmal auf die harte Tour lernen müssen, dass nicht einmal Familie das war, was am Ende des Tages bleibt. So hart es auch klingen mag, das Einzige das am Ende des Tages Gewiss ist, ist dass das was bleibt man selbst ist. Wenn alles geht bleibt dass ich und das war es, was ich wollte. Ich konnte es nicht riskieren, mich selbst zu verlieren. Nicht jetzt und auch niemals.

Ever afterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt