Kapitel 35

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Die Tage verflogen nur so und ehe ich mich versah, war es schon Oktober. Und obwohl ich den Herbst immer mehr als alles andere geliebt hatte, freute ich mich dieses Jahr nicht über ihn. Stattdessen schien sich mein Innerstes mit jedem Tag mehr zu verkrampfen. Ich hatte vermehrt Albträume und die Zahl meiner Schnitte auf meinen Armen wuchs. Ich konnte selbst nicht sagen, warum es mir so schlecht ging. Es wurde nur immer schlimmer und ich wusste, irgendwann würde ich platzen. Es fehlte nur noch der bekanntliche Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Ich ahnte ja gar nicht, wie schnell dieser Tropfen kommen würde.

Es war ein ganz normaler Schultag. Ich saß gerade im Englischunterricht, als mit einem Mal ein Alarm losging. Nicht etwa der Feueralarm, der jährlich einmal geübt wurde. Nein, es war ein Alarm, der alle in Panik versetzte. „Amokalarm. Amokalarm. Bitte begeben Sie sich in das nächste Zimmer und verriegeln Sie die Tür.“ Mehrere Schüler sprangen auf. Manche begannen zu schreien. Andere klammerten sich an ihren Nebensitzern fest. Unser Lehrer sprang auf, rannte zur Tür und schloss sie eilig ab. „Ruhe!“, brüllte er dann und es wurde augenblicklich mucksmäuschenstill. „Elias, Karin. Los, schiebt den Tisch vor die Tür. Markus, Tobias, schließt die Fenster, aber dalli! Und dann alle dort hinten in die Ecke neben die Schränke. In die Ecke, die nicht bei den Fenstern ist! Los, legt noch ein paar Tische so, dass man uns von den Fenstern aus nicht so gut sehen kann. Jette, hilf mir mal.“ Alle sprangen auf und taten die ihnen aufgetragenen Anweisungen. Dann kauerten sich alle in die Ecke zusammen und ich legte mit Herrn Schneider ein paar Tische vor unseren Kurs. Während ich über die Tische stieg und mich mit zitternden Armen und Beinen neben meinen Kurs setzte, überprüfte unser Lehrer noch einmal, ob auch alle Fenster und die Tür verriegelt war. Dann schaltete er die digitale Tafel aus und löschte das Licht. Leise kam er zu uns und setzte sich vor uns.

„Passt auf“, begann er zu flüstern. „Passt auf, ihr müsst alle ganz leise sein. Kein Schreien, kein Schluchzen, keine Gespräche. Egal, was passiert, ihr seid ruhig. Verstanden?“ Wir alle nickten. „Können wir unseren Eltern schreiben“, fragte Karin mit zitternder Stimme. Unser Lehrer nickte. „Aber keine Telefonate.“ Sofort zogen fast alle Schüler ihre Handys. Ich tat es ihnen gleich und schrieb meinem Vater. ‚Hilfe! Amokalarm in der Schule. Ich hab Angst!‘ Keine Minute später kam seine Antwort. ‚Ich bin auf dem Weg! Bleib ruhig, mein Schatz. Ich hab dich lieb.‘ ‚Ich hab dich auch lieb, Papa.‘ Nun liefen auch mir ein paar Tränen über die Wangen und ich wischte meine Nase an meinem Ärmel ab, um nicht zu schniefen. Tief atmete ich durch, als meine Hände so stark zu zittern anfingen, dass ich mein Handy nicht mehr richtig halten konnte. ‚Ich bin da. Die Polizei ist schon an der Sache dran. Keine Sorge, dir wird nichts passieren!‘

Plötzlich ertönten Schüsse. Ein paar meiner Mitschüler schrien auf. Ich hielt die Luft an. Mein Herz raste. „Sh! Wenn euch euer Leben lieb ist, dann haltet ihr eure Klappen!“, zischte unser Lehrer und man sah ihm an, dass auch er Angst hatte. Doch seine Worte brachten den gewünschten Effekt. Meine Mitschüler waren still. Sie klammerten sich nur gegenseitig aneinander fest und weinten stumm. Ich umklammerte meine Beine mit meinen Armen und vergrub meinen Kopf in meinen Knien. Zittrig atmete ich durch. Mein Herz pochte so laut in meinem Kopf, dass ich Angst hatte, man könne es nach außen auch hören. Mit meiner linken Hand umklammerte ich meinen rechten Unterarm und zog an meiner Haut. Ich spürte, wie einige meiner frischeren Schnitte wieder aufplatzten, doch dieses mal brachte der Schmerz gar nichts mehr.

Dann plötzlich knisterten die Lautsprecher. Wir alle hielten den Atem an. „Die Gefahr ist gebannt, der Täter festgesetzt. Bitte warten Sie alle in ihren Zimmern. Das Einsatzkommando holt Sie einer nach dem anderen ab und begleitet Sie nach draußen“, ertönte die Stimme unserer Direktorin. Ein erleichtertes Lachen gepaart mit Freudentränen ging durch den Kurs. Auch ich erlaubte es mir nun, laut aufzuschluchzen, ehe ich mir mit meinem Ärmel über meine Augen und mein Gesicht fuhr. Wir alle sprangen auf, als es an unserer Tür klopfte und eine tiefe Stimme „Einsatzkommando!“ rief. Sofort schoben wir den Tisch weg und Herr Schneider schloss die Tür auf. Eine Gruppe hochgesicherter und bewaffneter Leute nahm uns in ihre Mitte und begleitete uns nach draußen. Kaum waren wir dort, rannten die ersten los zu ihren Eltern. Ich wurde erschlagen von der Menge an Leuten, darunter auch jede Menge Polizisten uns Sanitäter.

Dann sah ich meine Vater. „Papa!“ „Jette!“ Lachend und weinend zugleich rannte ich ihm in die Arme. Er hob mich hoch und ich umklammerte ihn mit meinen Beinen. Schluchzend vergrub ich meinen Kopf in seiner Halsbeuge. „Bring mich hier weg, bitte, bring mich hier weg. Ich will hier weg.“ Und nachdem endlich alles geklärt war, konnte ich nach Hause. Doch auch dort verschwand dieser unendliche Schmerz nicht. Es ging nicht. Gar nichts ging mehr.

Ich weiß ich bin gemein :)

Der neue Freund meiner Mutter (AS FF)Where stories live. Discover now