Kapitel 22

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Mit dem Juni stiegen die Temperaturen rasant an und es wurde richtig warm. Die Lehrer stellten Ventilatoren in den Klassenzimmern auf, mein Vater besorgte extra einen neuen für mein Zimmer. Obwohl es auf die Sommerferien zuging und wir kaum noch Arbeiten schrieben, blieb die Schule so anstrengend wie immer und schien in diesen Tagen noch einmal alles zu geben. So kam es, dass ich nach einem besonders anstrengenden Freitag noch einen Entspannungsspaziergang im Park neben der Schule machte. Die Hitze war heute erträglich, aber trotzdem war es noch sehr heiß. Ich wollte etwas trinken, bemerkte aber dann, dass meine Trinkflasche leer war. Seufzend zog ich meinen Rucksack wieder auf und blickte mich um. Ein Getränkestand fiel mir ins Auge. Das war die Lösung. Ich lief los. Ein junger Mann und eine junge Frau verkauften selbstgemachte Getränke in verschiedenen Farben, die echt gut aussahen. Also entbehrte ich zwei Euro für einen großen Becher eines blauen Gemischs und setzte mich damit auf eine Bank in der Nähe. Ich trank einen großen Schluck. Es schmeckte nach verschiedenen Beeren und ein bisschen bitter. Ich schaute auf den Becher, zu dem Stand und zuckte mit den Schultern. War bestimmt normal bei selbstgemachtem Saft. Schneller als beabsichtigt war der Becher leer. Ich brachte ihn zurück an den Stand und bekam 50 Cent Pfand zurück. Echt gute Idee mit den wiederverwertbaren Bechern. Dann setzte ich mich wieder auf die Bank, schloss die Augen und genoss die Sonne.

Neben mir stöhnte plötzlich jemand und ich öffnete meine Augen schnell wieder. Der Mann neben mir hatte einen Becher des Getränkestands in der Hand, der ihm auf den Boden fiel. Er griff sich an die Brust, hustete und ging in die Knie. Gegenüber erging es einer Frau genauso. Ich sprang auf und wollte helfen. Plötzlich fuhr mir ein stechender Schmerz in meinen Magen. Ich legte meine Hände auf meinen Bauch und krümmte mich leicht. Ein Hustenreiz überkam mich und mein Hals schien sich zu verengen. Hustend ging ich in die Knie und kniff die Augen zusammen. Schwer atmend versuchte ich Luft in meine Lunge zu bekommen. Mein Kopf fing an zu schmerzen. Ich drückte ihn gegen den Asphalt und lag mit einem Mal ganz auf dem Boden. Ich hustete erneut.

Mit einem Mal drehte mich jemand von der Seite auf den Rücken. „Jette!“ „Stephan“, keuchte ich und schluckte. Der Becher Saft schien meinen Magen wieder verlassen zu wollen. Die Bauchschmerzen wurden schlimmer. Ich presste meine Hände fester darauf und kniff meine Augen zusammen. Ich spürte eine Hand auf meinen und öffnete meine Augen wieder. „Keine Sorge, es wird alles wieder gut. Der RTW ist gleich da“, versuchte Stephan mich zu beruhigen und drückte meine Hände fester. „Bauchschmerzen“, sagte ich und musste würgen. Stephan drehte mich schnell auf die Seite und ich erbrach mein Getränk. „Ist ok, alles gut“, sagte Stephan und legte mich wieder richtig auf den Boden. „Schlecht Luft“, keuchte ich, schluckte mehrmals und öffnete meinen Mund weiter, um endlich wieder richtig Luft zu bekommen. Es klappte nicht und meine Atmung verschnellerte sich automatisch. „Jette, versuch ruhig zu atmen. Hier, mach mir nach“, bat Stephan und begann mit irgendwelchen Atemübungen. Ich versuchte, sie ihm nachzumachen, aber es wurde nicht besser. „Wird’s besser?“, fragte Stephan. Ich schüttelte meinen Kopf, schloss meine Augen und eine Träne lief mir über die Wange. „Das wird gleich wieder. Versuch, ruhig zu bleiben“, sagte Stephan und drückte meine Hände erneut fest.

„Und, wie sieht’s aus?“ Ich öffnete meine Augen wieder. Den Polizisten kannte ich doch. Das war dieser Paul Richter. „Bauchschmerzen, Erbrechen und Atemnot“, berichtete Stephan seinem Kollegen. „Dann hat‘s sie am schlimmsten erwischt. Sie ist aber auch die jüngste Patientin hier. Da hinten kommt der RTW.“ Eine gefühlte Ewigkeit später wich Stephan plötzlich von mir zurück. Panik überkam mich. Er sollte mich jetzt nicht alleine lassen! Hektisch atmend versuchte ich, nach seiner Hand zu greifen. Zwei Frauen erschienen neben mir, an die ich mich noch gut erinnern konnte. Die eine war dagewesen, als ich den Ball gegen den Kopf bekommen hatte. Die andere, als mein Vater und ich diesen Unfall mit dem Verbrecher gehabt hatten. Nur ihre Namen fielen mir gerade nicht mehr ein. „Stephan, komm mal wieder her“, bat die eine. Stephan erschien an meinem Kopf. Ich griff nach seiner Hand und mein Herz beruhigte sich wieder. „Ok, ich würde sagen, du bleibst erst mal hier.“ „Ist gut. Jette, ich bleib hier. Keine Angst.“ Ich nickte keuchend. Dann bekam ich eine Sauerstoffmaske über Mund und Nase und bekam endlich wieder einigermaßen gut Luft. Erleichtert atmete ich durch. „Wird’s besser?“, fragte die Frau mit den kurzen roten Haaren und der Brille. Ich nickte leicht. „Ok, was hast du denn noch für Beschwerden?“, wollte sie wissen. Ich musste kurz schlucken. „Bauchschmerzen, leicht Kopfschmerzen, Übelkeit“, zählte ich auf. „Alles klar. Wir geben dir was dagegen und dann nehmen wir dich mit in die Klinik. Können wir irgendwie deine Eltern erreichen?“ „Mein Vater“, murmelte ich, während die andere Frau mir einen Zugang legte. Ich blickte hoch in Stephans Gesicht. „Ich lasse deinen Vater in die Klinik bestellen“, nickte dieser mir zu und funkte kurz mit seiner Leitstelle. Die Frau mit den langen roten Haaren legte mir einen Zugang in meiner Ellenbeuge. Dann kam Paul wieder. „Stephan, pass auf. Das ist für euch vielleicht auch interessant. Die beiden Verkäufer haben in ihren Getränken synthetische Farb- und Konservierungsstoffe benutzt, die aber giftig waren“, berichtete er. Stephan begann zu fluchen und zu schimpfen, während ich Medikamente gespritzt bekam. Meine Bauchschmerzen wurden besser, meine Kopfschmerzen verschwanden ganz. „Pass auf, wir legen dich jetzt auf die Trage. Bereit?“ Ich nickte, wurde hochgehoben und auf die Trage gelegt. Die beiden Frauen fuhren mich in den RTW. Stephan lief neben uns her. „Schaffst du das voll alleine Jette?“, fragte er und ich nickte tapfer. „Alles klar. Dein Vater wartet in der Klinik auf dich. Ich komme später mal vorbei, ok?“ Wieder nickte ich, dann schlossen sich die Türen und wir fuhren los.

Mein Vater wartete tatsächlich schon in der Klinik, wo ich noch einmal durchgecheckt wurde und dann ein Zimmer für eine Nacht bekam. Mein Vater fuhr schnell nach Hause, um mir ein paar Sachen zu bringen. In dieser Zeit klingelte mein Handy. „Hallo?“, ging ich mit noch etwas schwacher Stimme dran, ohne auf den Namen zu sehen. „Jette, ist alles ok bei dir? Wir wollten vorhin doch telefonieren, aber da hab ich dich nicht erreicht. Warum klingst du so komisch?“ „Paolo, schön deine Stimme zu hören“, lächelte ich. „Ich bin im Krankenhaus. Ich wurde vergiftet.“ „WAS?“, rief der Frettchenjunge und im Hintergrund klirrte es. „Was schreist du denn so, Junge?“, vernahm ich Irmas Stimme. „Mama jetzt nicht. Jette wurde vergiftet.“ „Was? Stell das Telefon auf laut. Alfons, Jette wurde vergiftet!“ „Was?“, antwortete die quietschende Stimme von Paolos Schwester Misha und wie es schien, hatte ich nun die gesamte Familie am anderen Ende der Leitung. „So Kind, jetzt erzähl. Wie geht es dir? Was ist passiert?“, fragte Irma aufgeregt und ich musste leicht schmunzeln. „Ich hab Medikamente bekommen. Es geht mir besser, hab aber immer noch leichte Bauchschmerzen. Ich hab mir ein selbstgemachtes Getränk gekauft, in dem sich giftige Farbstoffe befanden, was keiner wusste. Aber es wurde sich schnell um mich und alle anderen gekümmert. Jetzt muss ich eine Nacht zur Beobachtung im Krankenhaus bleiben“, berichtete ich langsam – meine Stimme war immer noch etwas angeschlagen. „Oh je, oh je, oh je. Ganz gute Besserung von uns! Wann hast du denn die nächsten Ferien?“, sagte Irma. Ich runzelte leicht meine Stirn. „Ende dieses Monats. Warum?“ „Dann schicken wir dir Paolo vorbei, dass er ein bisschen auf dich aufpassen kann!“, beschloss Irma. „Mama!“, rief Paolo und ich spürte, dass mein Gesicht warm wurde. „Ist gut, ich freu mich“, nuschelte ich und musste ein Kichern unterdrücken. „Jette, du kannst mir das genaue Datum ja dann noch schreiben und ich plane dann, wann ich komme. Mama, ich würde sagen wir lassen Jette sich jetzt mal weiter ausruhen, ok?“ „Aber natürlich! Wir müssen unsere Abendvorstellung auch noch vorbereiten. Gute Besserung, Liebes.“ „Gute Besserung“, kam es mehrstimmig zurück. „Danke, tschüss“, verabschiedete ich mich, beendete den Anruf und legte mein Handy wieder auf den Nachttisch.

Just in diesem Moment betrat mein Vater mit einer kleinen Reisetasche das Zimmer und stellte diese vor dem Schrank neben meinem Bett ab. Dann setzte er sich auf einen der Besucherstühle neben mein Bett. Er griff nach meiner Hand und drückte sie fest. „Na, wie geht’s dir?“ „Noch etwas Bauchschmerzen, aber es geht.“ Mein Vater nickte und begann zu erzählen, was heute schon wieder auf seiner Arbeit losgewesen war. Von einem Klopfen wurde er unterbrochen. „Herein.“ Die Tür öffnete sich und Stephan stand in normalen Klamotten da. „Guten Tag“, begrüßte er meinen Vater und schloss die Tür. „Was wollen Sie hier?“, fragte mein Vater weniger freundlich. „Ich wollte mich nach Jette erkundigen.“ „Papa, er war heute bei mir und hat sich um mich gekümmert“, erklärte ich meinem Vater leise. Die Aktion heute rechnete ich Stephan wirklich hoch an. Mein Vater blickte von mir zu Stephan, stand dann auf und streckte dem Polizisten eine Hand hin. Stephan nahm und schüttelte sie. „Vielen Dank,“ bedankte sich mein Vater. „Nichts zu danken, das war selbstverständlich. Na Jette, wie geht es dir?“ „Nur noch etwas Bauchschmerzen“, antwortete ich brav. „Alles klar, da bin ich aber froh. Na dann, ich muss leider gleich schon wieder los. Gute Besserung.“ So schnell wie er gekommen war, verschwand er auch wieder und mein Vater setzte sich zurück auf den Stuhl. Über das eben Geschehene schwiegen wir und mein Vater nahm nach kurzer Stille seine Erzählungen wieder auf.

Der neue Freund meiner Mutter (AS FF)Where stories live. Discover now