LXXIV

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Eve

"Wie er hat versucht sich umzubringen?" Fassungslos starrte ich Dr. Yang an.
Dr. Yang strich sich die Haare zurück und fuhr sachlich fort. „Man hat ihn gestern Abend in seinem Badezimmer gefunden. Zum Glück rechtzeitig. Er hat versucht sich mit einer Glasscherbe zu erdolchen. Er hat sie sich ‚nur' in den Bauch gerammt, zum Glück hat er sich dabei nicht ernsthaft verletzt. Aber es war knapp. Er hat viel Blut verloren." Wie versteinert saß ich auf der Couch in Dr. Yangs Praxis. Sie saß gegenüber von mir in ihrem Psychiatersessel, in dem sie immer saß, und betrachtete mich vorsichtig. „Tut mir leid Eve. Es ist bestimmt schwer für dich das zu hören, aber.."
„Ich hasse ihn!", unterbrach ich sie und sie sah mich etwas irritiert an. „Ich meine das ist so asozial von ihm!"
„Eve, wir wissen noch nicht ob er sich wirklich umbringen wollte, oder ob das was mit seiner Krankheit zu t-."
„Das interessiert mich nicht!" Wütend stand ich auf. „Nein. Das ist so typisch. Es war so klar. Er hat mein ganzes Leben zerstört. Er hat alles kaputt gemacht und ich versuche damit klar zu kommen. Und dann geben Sie mir diesen blöden Brief von ihm. Hat er wirklich erwartet, ich würde ihm sofort wieder verzeihen?" Ich ging im Zimmer auf und ab und Dr. Yang beobachtete mich stumm.
„Hören Sie auf mich so anzusehen! Halten Sie mich jetzt für einen schlechten Menschen deswegen? Weil ich den Brief ignoriert hab? Weil ich ihm nicht helfen konnte?"
„Nein, Eve. Ich wollte dir keine Vorw-.", begann sie, doch ich war so wütend und redete weiter.
„Wow. Tut mir so leid. Dann bin ich eben ein schlechter Mensch. Jasper ist ja soooo arm, dass ich ihm nicht sofort verzeihe, ich bin ja so eine schlechte Freundin. Wenn er alle umbringt ist das okay. Aber wenn ich nicht sofort mache, was er will bringt er sich um. Soll ich jetzt Schuldgefühle haben? Will er mir Schuldgefühle machen? Das ist so unfair! Das ist so egoistisch von ihm."
Ich blieb stehen und schaute Dr. Yang erwartungsvoll an. Sie schien etwas überfordert, sogar für eine Psychiaterin.
„Okay Eve. Setz dich mal wieder hin, okay?" Genervt verdrehte ich die Augen und setzte mich wieder auf die Couch. „Ich verstehe deine Aufregung Eve. Aber-."
„WAS ABER?", fuhr ich sie wütend an. „Aber was?? Er ist schuld! Er ist schuld an allem. Er hat mir alle weggenommen.", rief ich, ich schrie sie sogar fast an. Weil sie mir auf die Nerven ging. Weil es mich nervte, dass sie immer alles auf seine Krankheit schob. „Ich dachte, er hat mich geliebt. Wieso hat er mich dann die ganze Zeit verletzt? Wieso hasst er mich so sehr?"
„Eve..." Dr. Yang seufzte. „Das ist es ja. Er hat dich geliebt. Er liebt dich. Immer noch. Zu sehr. Das klingt vielleicht blöd. Aber ich erklär dir mal was Eve. Wir wissen nicht wirklich was das mit Jasper und Caleb genau ist. Er sagt uns nicht wirklich was, weil er es selbst nicht weiß. Aber er hat mir viel über eure Vergangenheit erzählt. Und ich bin mir sicher, dass du der Auslöser dafür warst. Die Eifersucht auf Matt. Er hat dich einfach über alles geliebt. Und ich glaube, dass seine Krankheit durch seine extreme Trauer ausgelöst wurde. Ich will ihn ja nicht verteidigen, aber er kann diesen Teil nicht kontrollieren. Er hat mir erzählt, wie krank er immer vor Sorge um dich war, weil er selber Angst vor Caleb hatte. Irgendwann hat er es ja selbst bemerkt. Im Brief hat er geschrieben, dass er sich von dir fernhalten wollte. Doch der zweite Teil in ihm, der hat das eben nicht zugelassen. Aus allem, was du mir erzählt hast, was in dem Keller passiert ist, kann ich nur schließen, dass Caleb wirklich so krankhaft in dich verliebt war, dass er dich um jeden Preis haben wollte. Durch Jaspers und deine Trennung stand Jasper wahrscheinlich so unter Schock und Trauer, dass er sozusagen Caleb ‚kreiert' hat. Er drückt Jaspers Verzweiflung, Trauer und Liebe aus, die er empfunden hat, um sie irgendwie verarbeiten zu können. Ich weiß nicht, wodurch er sozusagen ‚die Persönlichkeit wechselt'. Aber jedenfalls immer, wenn das passiert, dann überwältigt ihn diese Trauer und Verzweiflung und auch die Wut so sehr, dass er nicht klar denken kann. In diesem Zustand klammert er sich so sehr daran, dass ihr für einander bestimmt seid, dass er wirklich nicht vernünftig denken kann. Verstehst du Eve? Was ich damit sagen will ist, dass ich natürlich deine Wut verstehe. Aber du sollst wissen, dass Jasper das alles nicht getan hat um dich zu verletzen, sondern weil er dich zu sehr geliebt hat und einfach irgendetwas tun musste um seine Trauer zu bewältigen. Natürlich ist das nicht der richtige Weg und wir müssen noch herausfinden woran es liegt, dass er so damit um geht. Aber Jasper hat das nicht getan, weil er dich hasst, Eve. Und ich glaub nicht, dass er versucht hat sich umzubringen um dir Schuldgefühle zu machen, sondern weil er so verzweifelt war."
Ich antwortete nicht. Die ganze Zeit, während ich ihr zugehört hatte, hatte ich unruhig mit meinen Finger gespielt. „Eve?", fragte sie unsicher. Wahrscheinlich fragte sie sich, ob ich ihr überhaupt zugehört hatte, weil ich sie kein einziges Mal angeschaut hatte. Ich antwortete immer noch nicht, weil ich versuchte zu verarbeiten, was sie mir da erzählt hatte. Weil mir grade klar wurde, dass ich aufhören musste Jasper die Schuld dafür zu geben. Weil eigentlich ich Schuld war. Seit alles begonnen hatte, war ich davon überzeugt gewesen, dass es meine Schuld gewesen war. Der Tod von Matt und Mai-Li. Doch in den letzten Wochen war es mir wieder besser gegangen. Weil ich gedacht hatte, es wäre alles seine Schuld gewesen. Weil ich gedacht hatte, dass Jasper mein Leben zerstören wollte. Doch jetzt war es mir wieder klar geworden. Ich hatte Recht gehabt. Ich war schuld. Und zwar, weil ich Jasper so sehr verletzt hatte, dass er sich zu einem kranken Psycho entwickelt hatte um es irgendwie ertragen zu können. Ich schaute Dr. Yang also nicht nicht an, weil ich ihr nicht zugehört hatte, sondern weil mich diese Wahrheit grade so sehr überwältigte. Ich wollte die Hoffnung nicht aufgeben, dass das alles nur ein Traum war, oder dass sie mich nur verarschen wollte. Doch sobald ich in ihr ernstes Gesicht und ihren vorsichtigen Blick sehen würde, würde ich sehen wie real das grad alles war. Die Zeit verging und weil ich der Wahrheit nicht ewig entkommen konnte, musste ich schließlich aufblicken. Wie erwartet sah ich ihr ernstes Gesicht und ihren vorsichtigen Blick. Ich schaute ihr in die Augen und fragte mich, wen sie in dieser ganzen Geschichte eigentlich als den/ die Böse/n sah. Gab sie Jasper die Schuld daran? Wie ich in den letzten Wochen? Oder war sie schon die ganze Zeit davon überzeugt, dass ich Schuld an allem war? Ich wusste es nicht. „Dr. Yang?", fragte ich schließlich. „Kann ich ihn sehen?"

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