XXXV

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Eve

Drei Wochen. Drei Wochen hatte ich schon ohne meine beste Freundin überstanden. Und es war verdammt hart gewesen. Ich meine so richtig ohne sie. Es war natürlich schon öfter vorgekommen, dass wir uns länger nicht gesehen hatten, aber zumindest mit dem Wissen, dass ich sie bald wieder sehen würde und vor allem, dass sie noch am Leben war! Die meiste Zeit hatte ich mich in meinem Zimmer verkrochen. Manchmal war ich zu dem Platz im Wald am Fluss gegangen. Allein. Ich sprach mit fast keinem. Außer mit meinen Eltern wenn sie mich wieder dazu zwingen wollten, etwas zu essen. Sogar von Jasper wandte ich mich ab. Er schrieb mir hin und wieder Nachrichten wie es mir ging, und ob alles okay wäre. Ich ignorierte sie. Daraufhin rief er mich immer an, doch ich hatte bisher noch nie abgehoben. Und wenn er bei mir vorbei kam, weil er sich so große Sorgen um mich machte, versuchte ich ihn so nett wie möglich abzuweisen. Er wollte mir nur helfen, das wusste ich. Aber ich hatte keine Kraft. Ich hatte nicht die Kraft, so zu tun als wäre es okay. Und ich wollte ihn nicht immer mit meinen Problemen belasten. Ich konnte einfach nicht. In die Schule ging ich gar nicht mehr. Dieses Jahr würde ich wohl wiederholen müssen. Na und? Ich hatte sowieso keine beste Freundin mehr in der Klasse, die ich vermissen würde, wenn ich sitzenbleiben würde. Als Matt noch gelebt hatte, wollte ich unbedingt so schnell wie möglich mit der Schule fertig sein, um mit ihm gemeinsam aufs College zu gehen. Aber jetzt? Mir war es so egal, wann ich mit der Schule fertig war. Mir waren die Leute in meiner Schule egal, die sich alle schon fragten was mit mir passiert war. Mir war mein Klassenvorstand, der mit meinen Eltern telefoniert hatte egal. Total egal. Mir war es auch egal, dass es in meinem Lebenslauf nicht besonders gut ankommen würde, wenn ich die Klasse wiederholen müsste. Mir waren meine Eltern egal, mir war sogar Jasper egal. Mir war alles egal und am egalsten war mir mein ganzes scheiß Leben. Ich hatte es sowieso nicht verdient zu leben, wenn so viele wegen mir starben. Matt, Nick, Mai-Li, Chuck lag im Koma...Wer war wohl der Nächste? Meine Eltern vielleicht? Jasper? Recht viel mehr Personen in meinem Leben waren ja eh nicht mehr übrig. Wieso konnte dieser blöde Psycho Caleb nicht einfach mich oder sich selbst umbringen? Dann hatte das alles endlich ein Ende. Ich nannte ihn längst nicht mehr nur ‚C'. Viel zu harmlos. Ich hasste diesen Buchstaben mittlerweile. Doch der Buchstabe reichte nicht für so eine grauenvolle Person. Psycho Caleb war da schon viel besser. Ich lag in meinem Bett und starrte die Zimmerdecke an. In den letzten zwei Stunden hatte ich mich kein einziges Mal bewegt. Nicht mal um meine Nase zu kratzen oder so, das war mir ja sowieso egal. Ich hörte ein leises Klopfen an meiner Zimmertür. „WAS?", rief ich scharf. Meine Eltern konnten so nervig sein. Wahrscheinlich war es nur wieder meine Mutter mit Essen. Doch ich hatte keine Lust, sie zu sehen, oder zu Essen. Sie meinte es nur gut und hatte es nicht verdient so von mir behandelt zu werden. Na und? War ja sowieso egal. Doch es war nicht meine Mutter. Es war Jasper. „Hey. Darf ich kurz reinkommen?", fragte er so vorsichtig und sanft wie immer. Trotzdem schloss ich genervt die Augen.
„Nein, Jasper bitte geh wieder heim. Ich will alleine sein.", sagte ich so nett ich konnte. Ich erwartete einen weiteren Versuch seinerseits, woraufhin ich ihn anschreien würde, damit er endlich verschwinden würde. Doch stattdessen sagte er: „Bist du angezogen?"
„Ähm, ja?"
„Okay. Gut. Dann komme ich jetzt rein."
Ich wollte protestieren, doch da stand er auch schon vor mir. Ich verdrehte die Augen. „Jasper, kapierst du's nicht? Ich will alleine sein."
„Ja Eve. Schon klar. Trotzdem werde ich nicht dabei zusehen wie du dich von allen abschottest. Klar du hast viel verloren. Ich meine ich hab noch nie mir so nahestehende Menschen verloren und deswegen weiß ich nicht wie es sich anfühlt, aber ich kann mir vorstellen wie es dir geht. Eve, du kannst nicht ewig trauern. Rede zumindest mit jemandem. Das kann so doch nicht weitergehen! Ich bin dein bester Freund. Rede mit mir. Oder mit deinen Eltern. Oder mit-."
„Oder mit wem Jasper? Ich hab keinen Freund mehr mit dem ich über alles reden kann und ich hab auch keine beste Freundin mehr der ich alles erzählen kann und über meine Gefühle sprechen kann. Sie sind tot. Mit meinen Eltern will ich nicht darüber reden und auf keinen Fall habe ich Lust mit dir darüber zu sprechen. Verschwinde einfach Jasper.", fuhr ich ihn an. Während ich gesprochen hatte war ich aufgestanden sodass wir uns jetzt genau gegenüber standen.
Er wich erschrocken zurück, doch trat gleich wieder auf mich zu. So schnell gab er wohl nicht auf. „Eve...Denk mal nach. Angenommen es wäre umgekehrt. Du tot, Mai-Li am Leben. Würdest du ihr wünschen, dass es ihr so scheiße geht? Würdest du nicht viel lieber wollen, dass sie sich jemandem anvertrauen kann und nicht alles alleine durchstehen muss?"
„NEIN.", schrie ich. „Du verstehst es nicht. Wenn Mai-Li nicht tot wäre und sie mir jetzt sagen könnte was sie von mir hält oder was sie wollen würde wie es mir geht, dann wäre das verdammt nochmal nichts Gutes. Sie würde mich hassen. Wenn sie alles wüsste, würde sie mich hassen. Und ich hasse mich, weil ICH SCHULD BIN."
Er ging auf mich zu. „Eve...." Er wollte mich umarmen doch ich riss mich los.
„Ich hab meinen Freund und meine beste Freundin umgebracht.", heulte ich und schlug um mich doch trotzdem versuchte er mich zu beruhigen und mich zu umarmen. „Ich sollte sterben, ich hab es verdient zu sterben. ICH!" Ich trommelte gegen seine Brust. „Geh weg Jasper, ich hab es nicht verdient, dass sich jemand um mich kümmert. GEH WEG!"
„Nein Eve. Du bist nicht schuld. ‚C'...Caleb ist schuld, nicht du. Du hast verdammt viel verloren ich weiß. Und du hast das Recht traurig zu sein und wenn es dir hilft dann kannst du mich auch anschreien oder deine Eltern, die verstehen das sicher auch. Du musst auch nicht in die Schule gehen, du hast das Recht zu Trauern. Aber hör endlich auf dich selbst dafür zu bestrafen." Mir ging langsam die Kraft aus und anstatt weiter um mich zu schlagen und ihn anzuschreien ließ ich meine Hände sinken und mich in seine Arme fallen. Ich presste mein Gesicht an seine Schulter und heulte. Mein ganzer Körper bebte und er strich mir beruhigend über den Rücken. „Alles wird gut Eve." NEIN WIRD ES NICHT! ALLES IST SCHEIßE! ICH HAB ES NICHT VERDIENT ZU LEBEN! MEINE BESTE FREUNDIN IST TOT! MEIN FREUND IST TOT! ICH. HASSE. ‚C'. CALEB! ICH HASSE MICH! NICHTS WIRD WIEDER GUT! DU HAST JA KEINE AHNUNG DU IDIOT! Wollte ichs schreien, doch mehr als ein Kopfschütteln schaffte ich nicht. „Komm Evie. Legen wir uns hin?" Er küsste mich sanft auf die Stirn und ich nickte. Wir legten uns in mein Bett. Ich lag in seinen Armen. Es fühlte sich so gut an, ihn zu spüren und zu wissen, dass er sich um mich sorgte und mich mochte und für mich da war. Immer. Aber gleichzeitig hasste ich es, weil ich es nicht verdiente. Weil ich ihn in Gefahr brachte. Ich wollte nicht, dass Psycho Caleb auch noch ihn umbringt. Deswegen hielt ich mich von allen fern. Weil ich wusste, dass er es auf die Leute abgesehen hatte, die mir wichtig waren. Doch ich konnte mich nicht aus seiner Umarmung befreien. Ich war zu kraftlos um ihn nach Hause zu schicken um ihn vor Psycho Caleb zu retten. Außerdem würde er ja sowieso nicht gehen. Die Minuten vergingen und ich heulte weiter. Ich wollte gar nicht wissen, wie zerstört ich jetzt aussah, aber es war mir ja sowieso egal. Jasper streichelte geduldig meinen Kopf und flüsterte mir immer wieder irgendwas Beruhigendes zu. Jaspers Shirt war schon total durchnässt von meinen ganzen Tränen. Womit hatte ich ihn nur verdient? Er war so toll. So toll und lieb. Perfekt.
Ich hatte in den letzten Monaten zwar sehr sehr viel geheult. Doch so verausgabt beim heulen hatte ich mich schon lange nicht mehr. Ich war richtig erschöpft. Es war mir schon irgendwie peinlich vor Jasper. Wahrscheinlich hatte er mich seit wir getrennt waren öfter heulend als nicht heulend gesehen. „Danke.", flüsterte ich deshalb nach einer Weile, mit zittriger schwacher Stimme.
„Gerne." Ich sah ihn nicht, doch ich wusste, dass er lächelte. Wir lagen einige Zeit da ohne irgendetwas zu sagen.
„Eve?" Ich antwortete nur mit einem: „Hmm?" Und er fragte: „Kann ich dir was sagen was mich irgendwie wirklich belastet, aber du musst versprechen, dass du nicht gleich auszuckst okay?" Ich nickte.
„Ich hab mit deine Eltern geredet...Sie haben mir erzählt, dass du fast nichts gegessen hast in den letzten Tagen...und...und ich.. Also Eve sie haben Recht. Du bist so verdammt dünn geworden. Und ich meine es jetzt ja nicht böse oder sowas aber es sieht nicht gut aus. Als ich mein natürlich siehst du noch gut aus, aber du hast einfach viel besser als du nicht so-."
„Jasper, denkst du wirklich noch, dass es mir wichtig ist wie ich aussehe?", fragte ich ihn.
„Ähm nein, aber mir."
„Okay?"
„Nein ich meinte, mir ist nicht wichtig wie du aussiehst ich würde dich immer noch genauso sehr lieb- äh ich meine mögen wenn du-.."
„Lieben?"
„Was?" Er schaute mich verwirrt an.
„Du wolltest lieben statt mögen sagen."
„Nein, ich, also nein. Ich wollte mögen sagen." Stotterte er und versuchte den Faden wieder zu finden. „Also, was ich sagen wollte, ich würde dich noch genauso MÖGEN wenn du hässlich wärst nur ich will einfach, dass du gesund bist. Und so dünn wie du bist glaube ich nicht, dass das gesund ist..", stotterte er herum. Ich merkte wie unangenehm es ihm war darüber zu sprechen, weil er Angst hatte etwas falsches zu sagen, aber ich fand es süß, dass er sich solche Sorgen um meine Gesundheit machte.
„Okay."
„Okay? Okay wie okay ich werd wieder was essen?", fragte er hoffnungsvoll.
„Hmm. Okay."
„Heute noch?"
„Jasper!"
„Was?"
„Bitte. Du nervst mich."
„Ich höre auf zu nerven, wenn du etwas isst."
Ich verdrehte die Augen. „Von mir aus."
„Okay. Super! Was willst du? Pizza? Ich weiß wie sehr du Pizza liebst. Ich werd Pizza bestellen. Ich geh schnell deine Eltern fragen, ob es okay für sie ist, bin gleich wieder da." Und mit diesen Worten hatte er auch schon mein Zimmer verlassen. „Aber Jasper..", rief ich ihn zurück.
„Jo?" Er steckte seinen Kopf durch den Türrahmen.
„Wenn's schon unbedingt sein muss dann wenigstens Pizza Hawaii. Weil das ist meine-."
„Lieblingspizza, ich weiß ich weiß." Und dann hörte ich ihn zu meinen Eltern rennen und ich ließ mich zurück in mein Kopfkissen fallen. Und obwohl jeder einzelne Millimeter meines Körpers von Trauer erfüllt war musste ich Lächeln. Es war kein großes, Zähne zeigendes Lächeln, aber es war immerhin ein Lächeln. Das Erste seit langem.

Heyyy wie gehts euch so? Würd mich freun zu hören wie ihr die Story bis jetzt findet :)

Obsession - Lost In RealityOnde as histórias ganham vida. Descobre agora