Licht wirft Schatten

457 48 9
                                    

Lucius und Quintus eilten dem jungen Mann hinterher in die Sklavenquartiere. Diejenigen, die in der Türe standen, machten sofort Platz, als ihr Herr bei ihnen auftauchte. Andriana lag auf einem Lager aus Heu und Laken, mit einem guten Kissen und einer Decke. Einige andere saßen um sie herum, sie selbst atmete nur schwer und ab und an vernahm man ein wenig Gemurmel. Lucius stürzte zu ihr und nahm ihre freie Hand. „Wie geht es ihr?", fragte er in die Runde. Quintus war in der Türe bei den anderen stehen geblieben.

Die Sklavin, die Andrianas andere Hand hielt schüttelte den Kopf. Ein anderer sagte: „Nicht gut, Herr, verzeiht." Lucius blickte zwischen den Leuten umher. Aus einer Ecke drang leise: „Es geht schnell zu Ende mit ihr." Lucius sah wieder Andriana an. Ihre Augen waren geschlossen, sie warf ihren Kopf leicht hin und her. Ein Kloß entstand in seinem Hals. „Bitte- bitte lasst mich kurz allein mit ihr." Jeder zeigte sein Verständnis, denn jeder wusste, Andriana war Lucius am wichtigsten gewesen. Nach und nach verließen sie alle den Raum, Quintus ging als letzter, nachdem er Lucius einen letzten Blick zugeworfen hatte und schloss die Türe hinter sich.

Kaum vernahm Lucius das Schließen der Türe, da fing er auch schon an zu schluchzen. Er klammerte sich an Andrianas Hand, als würde es irgendwie helfen, ihre Seele in ihrem Körper zu halten. „Bitte nicht." Er streichelte ihre runzlige Wange, die von ihren Lebensjahren erzählte. „Nein." Er nahm sie in seine Arme. „Bitte sieh mich an." Sie öffnete flatternd ihre Augen. „Lucius", ihre Stimme war schwach und krächzte. „Mein Junge. Mein guter Junge. So groß bist du jetzt." Sie streichelte ihrerseits seine tränennasse Wange. Lucius nickte. „Ja." „Mein lieber Junge, sieh dich nur an. So groß und stark geworden." Lucius schluchzte. „Nur nicht stark genug." Sie hatte ihn wohl nicht gehört, stattdessen wanderte ihr Blick suchend durch den Raum.

„Wo ist denn Stirrius? Ist er gerade im Hof? Oder hilft er in der Küche?", riet sie. Lucius schüttelte den Kopf und schluchzte wieder. „Es tut mir leid, Andriana, aber er ist nicht hier. Er ist nicht mehr hier." Es tat ihm so leid. „Aber wo ist er denn hin? Ich habe ihn doch letztens noch gesehen. Ist er auf dem Markt?", fragte sie neugierig und wie sie schaute, tat Lucius weh. Er schrie beinahe schon verzweifelt: „Er ist nicht hier, Andriana!" Er schloss sie in seine Arme, sie legte ihre zaghaft um ihn. Er weinte in ihre Schulter und durchnässte ihre Toga. Es tat ihm so sehr leid.

Eine Weile lang füllte nur das Geräusch seines Schluchzens den Raum. Dann sagte Andriana leise: „Aber das stimmt doch nicht." Lucius sah sie verwundert an. Warum klang sie so, als wäre es ganz selbstverständlich? „Er ist noch hier. Irgendwo. Ich spüre es doch. Er ist irgendwo hier. Auf dieser Welt. Weißt du, wo er ist?" Lucius atmete tief durch. Dann begann er: „Ich weiß nicht, wo er jetzt ist. Aber es tut mir leid, Andriana. Du hast recht. Er ist noch hier." Andriana nickte. Es war, als ob sie ganz genau wüsste, ob er die Wahrheit sprach oder nicht. Vielleicht kannte sie ihn einfach schon so gut.

Lucius sprach weiter: „Er war niemals tot. Ich habe es aber gedacht. Ich habe ihn sterben sehen. Und siebzehn Jahre lang gedacht, ich hätte die Wahrheit gesehen. Es ist nur so, dass die Wahrheit ist, dass man nur sehr schwer stirbt, wenn man unsterblich ist." Andriana sah ihn nun doch erstaunt an. Lucius fragte sich, ob sie tatsächlich gespürt hatte, dass er noch lebte, oder ob es doch nur Wahnvorstellungen gewesen waren und er gerade viel zu viel erzählte. „Mein Junge? Stirrius? Er lebt ewig?" Lucius nickte. „Ja, das ist richtig. Er ist ein Gott. Er heißt auch eigentlich nicht Stirrius." „Nicht? Wie ist dann sein Name?" „Er heißt Apollo." Andriana verzog keine Miene. Sie strich nur ein weiteres Mal über Lucius' Wange und sagte schließlich: „Dann hoffe ich für ihn, dass er dich gut behandelt. Denn wenn er dir etwas tut, kann ich in meinem ewigen Tod sein ewiges Leben zum Tartaros machen." Lucius lächelte schräg. „Was redest du denn da? Du stirbst hier schon nicht." Andriana lächelte auch. Dann rührte sie sich nicht mehr.

Lucius starrte sie an. Er wartete. Auf ein Zeichen, ein Zucken ihres Auges, eine Bewegung, ein Wort. Das Einzige, was er erhielt, war, dass ihre Hand von seiner Wange fiel. Lucius starrte weiter. Bis sein Bewusstsein endlich mit der Realität aufgeholt hatte.

Er schrie auf. Er weinte, er schüttelte Andriana, er küsste sie. Er flehte zu den Göttern, es durfte nicht wahr sein, es konnte nicht wahr sein. Bis sich ein Arm um seine Schultern schlang, seinen Griff um Andrianas Toga löste und ihn an eine warme Brust zog. „Es tut mir leid, Lucius. Mors* scheint nicht mit sich reden zu lassen und es steht nicht in meiner Macht, sie zurück zu bringen. Es tut mir leid. Ich kann dir nicht helfen." Lucius schüttelte verzweifelt den Kopf, nicht fähig ein Wort heraus zu bringen. Er konnte nur auf Andriana starren und weinen und darauf warten, dass sie sich wieder rührte. Apollo drehte ihn um und zwang ihn, nicht mehr hinzusehen.


Auf Lucias und Quintus Hochzeit schien die Sonne. Ein froher Tag, doch leider warfen die Ereignisse der letzten Wochen tiefe Schatten über die Feierlichkeiten. Andriana war würdig begraben worden, schließlich hatte jeder sie gemocht. Selbst für die Jugendlichen war sie eine gute Großmutter gewesen, für die Kinder der Sklaven sowieso. Sie hatte sich schon immer um alles und jeden gekümmert und gesorgt. Sie jetzt nicht in dem kleinen Kreis der Hochzeitsgesellschaft dabei zu haben war beinahe mehr als merkwürdig.

Zu Gast waren nur Quintus' Eltern, Lucius, seine Kinder und wenige Sklaven, sowie die Priesterin, die sie trauen würde. Lucius' Eltern waren nicht dabei, Gaius hatte eine Hochzeit als „Sache zwischen Vätern" abgetan und gesagt, Lucius könne das schon selbst regeln. Vermutlich war das gut so, es ersparte ihnen einiges an Scherereien. Quintus' Großeltern waren beide bereits bei einem Überfall auf ihren Hof und die Schmiede verstorben.

Aber es war auf keinen Fall so, dass diese Feier sich zu einem Trauerspiel entwickelte. Lucius hatte sich schnell wieder gefangen, sein Geliebter war eine große Stütze gewesen. Er hatte ihm versichern können, dass Andriana gut in der Unterwelt angekommen war und es ihr gut ging. Das war bereits eine große Erleichterung gewesen. Alles andere hatte sich bald wieder beruhigt. Und Lucius war durch diese Stütze schnell wieder in der Lage gewesen, selbst eine Stütze für alle anderen zu sein, als sie ihn brauchten. Und so konnten alle eine schöne Hochzeit genießen, zwei junge Geliebte sich endlich Eheleute nennen und Lucius wusste noch nicht so ganz, was er davon halten sollte, jetzt mit Quintus verwandt zu sein. Aber sie waren schon so lange wie Brüder gewesen, einen großen Unterschied machte das offizielle Papier jetzt auch nicht mehr.

Noch wohnten Lucia und Quintus bei der Familie Lucius im Haus, ändern sollte sich das allerdings auch bald. Quintus hatte begonnen, sich mit seiner Arbeit richtig ins Zeug zu legen und sparte nun Geld, damit er sich und seiner Frau ein eigenes kleines Haus in Rom kaufen konnte. So ging der Alltag nun weiter und als der Winter allmählich anbrach sahen sie alle mit Zuversicht und Hoffnung in die Zukunft.

Amor vincit omniaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt