Ich drehte mich wieder zu den anderen und brachte ein lautloses Tschüss hervor. Der Kloß in meinem Hals war zu groß, um mehr zu sagen. Keiner der beiden Männer aber beachtete mich. Klar, sie mussten für Judith da sein. Auf dem Weg aus dem Krankenhaus hörte ich plötzlich meinen Namen. Es war Jake.

"Danke. Dass du sie ins Krankenhaus gebracht hast, und nicht gezögert hast. Das rechne ich dir hoch an. Es tut mir leid, was ich am Strand zu dir gesagt hab. Natürlich kennst du meine Familie... und es tut mir leid, wie abwesend ich in den letzten Tagen war. Du kennst jetzt den Grund dafür... und ich hoffe du verstehst es."

Ich sah ihm in seine schönen, braunen Augen. Endlich blickten sie mich wieder an, und mieden meine Augen nicht mehr, wie in der letzten Zeit.

"Jake, natürlich verstehe ich dich. Aber ich verstehe nicht, wieso ihr das Peter angetan habt. Wieso du das mitgemacht hast", ich wollte zu ihm durchdringen, aber er ließ es nicht zu. Bevor er auf dem Absatz kehrt machte sagte er nur noch: "Manchmal ist die Wahrheit zu schwer, um damit umzugehen."

Nachdenklich rief ich mir ein Taxi und fuhr nach Hause. Peter hatte mir eine SMS geschrieben, dass er über Nacht bei Judith bleiben würde und ich mich ablenken sollte. Nachdem ich dann eine Stunde lang gedankenverloren in meinem dunklen Zimmer gesessen hatte, beschloss ich, seinem Rat zu folgen. Hier allein zu sein brachte mir nichts, es machte mich nur verrückter. Meine Gedanken brachten mich zu Toby. Er hatte mir am Abend in der Bar zugehört und mir damit sehr geholfen, mal aus dem komplizierten Alltag zu verschwinden, den ich bei den Adams hatte. Es musste ja nicht spät werden, aber ein kleiner Abstecher in die Stitch Bar war vermutlich keine schlechte Idee.

Dieses Mal hatte ich die Zeit nicht wirklich damit verschwendet, mich herauszuputzen. Immerhin wollte ich auch Niemandem falsche Hoffnungen machen. Ein schwarzes Basicshirt und eine Jeans reichten vollkommen aus. Meine Haare band ich zu einem Dutt zusammen und schon ging ich los. Auch die Schminke ersparte ich mir heute. Auf dem Weg dachte ich immer wieder an Jake, was er wohl gerade fühlte und wie gern ich für ihn da wäre, auf eine Weise, wie sie unter Halbgeschwistern nicht besonders üblich war.

Als ich die Tür zur Bar öffnete wusste ich nicht einmal, ob Toby hier sein würde. Er hatte neulich nur davon geredet, dass er hier öfter wäre. Ein Blick durch den Raum verriet mir schnell: Ich hatte Glück. Als sich unsere Blicke trafen breitete sich ein Grinsen auf seinem Gesicht aus, und er deutete mit dem Kopf auf den Stuhl neben ihm.

"Hey.", sagte ich mit einem Lächeln auf den Lippen. "Was hat dich wieder nach hier verschlagen?", sagte er ohne mein Hey zu erwidern. "Redebedarf?", fügte er noch hinzu, scheinbar wissend, dass auf diese Frage 'Ja' die Antwort sein würde. Ich mochte seine Art. Er erwähnte weder, dass ich auf sein Angebot letztens, sich am darauffolgenden Tag wieder in der Bar zu treffen, nicht eingegangen war, noch hinterfragte er irgendwelche Sachen. Er war einfach da und hörte zu.

Also schoss ich los. Bei der Stelle mit dem Lungenkrebs schien auch er vom Glauben abzufallen und so recht einen Rat geben konnte er mir dazu nicht. Musste er auch nicht. Was sollte man zu so einer Situation auch sagen? Und wenn er wüsste, wie viel komplizierter sie noch war.

Es vergingen ein paar Stunden, in denen er mich etwas von meinem beschissenen Tag ablenkte. Wir lachten, und tranken dieses Mal nur Bier. Auf Tequila-Kater hatte morgen keiner von uns Lust. Als ich bezahlt hatte und nach meiner Jacke griff, nahm ich aus dem Augenwinkel wahr, wie auch er bezahlte und zur Garderobe kam. Da wären wir beim Thema falsche Hoffnungen - er wollte doch nicht mit zu mir kommen?

"Darf ich dich nach Hause begleiten? Ich habe es letztes Mal bereut, dass ich zugelassen habe, dass du allein durch die Nacht irrst." Er war so lieb. "Toby, ich weiß das sehr zu schätzen. Das alles: dass du für mich da warst, und mir so gut zugehört hast. Aber ich habe im Moment wirklich kein Interesse an..." "Ich verstehe.", fiel er mir ins Wort. "Aber darf ich dich als Freund begleiten?" Ich strahlte ihn an. "Gerne!" Er war wirklich einer von den Guten. Verständnisvoll, ehrlich, unglaublich hilfsbereit.

Also schlenderten wir im Dunkeln Richtung Heimat, unterhielten uns über Toby, seine Familie und sein Hobby: Fußball spielen. Sofort musste ich wieder an Jake denken... Ich beschrieb Toby den Weg, bis zu Dad und Judiths Haus. Je näher wir dem Haus kamen, desto stiller wurde er. Er benahm sich komisch. Fast vor der Haustüre druckste er ein wenig herum. "Alles gut?", fragte ich nach. "Du... das hier ist das Haus von deinem Dad?" Er sah mich mit großen Augen an, als wäre ihm ein Geist begegnet.
Und dann ging alles ganz schnell: Jake kam aus der Haustüre raus, ich glaube, er wollte sich zum Nachdenken auf die Mauer setzen. Er sah uns an, blickte ungläubig von mir zu Toby und ballte die Fäuste. Ich verstand nicht ganz.

"Ist das dein Ernst?! Das ist meine Halbschwester, du Mistkerl!!! Verpiss dich von hier!", schrie Jake und lief auf Toby zu.

"Chill, Mann!", wollte Toby ihn beruhigen aber es war zu spät. Ich kannte Jakes aggressive Art noch nicht. Sie kam wohl immer besonders dann hervor, wenn gerade etwas in seinem Leben schief ging - dann brauchte es nur noch eine Kleinigkeit, die seine Wut zum überkochen brachte. Und dieses Mal war es wohl die Eifersucht.
Er schlug Toby mit seiner Faust ins Gesicht. "Du warst mein bester Freund!", brüllte er.

Warte - Bester Freund? Das war ja jetzt wohl ein Scherz, oder? Wie verdammt kompliziert sollte diese ganze Geschichte hier denn noch werden? Das Universum wollte mir doch nicht ernsthaft verklickern, dass der einzige Mensch, den ich hier außerhalb von der Familie kennengelernt hatte ausgerechnet Jakes bester Freund war? Der Herr da oben musste sich prächtig über mich amüsieren...

"Jake, Stopp! Es ist nichts passiert, er hat mich nur als Freund nach Hause gebracht! JAKE!", versuchte ich erfolglos ihn runterzubringen.

"Bester Freund, sagst du?", rief Toby ihm zu, während er versuchte, Jake von sich runterzukriegen, "als bester Freund hast du aber mächtig versagt!"

Tobys Worte machten Jake nur noch rasender. Doch jetzt ließ Toby es sich nicht länger gefallen. Er löste sich von Jakes Griff und schlug ihn nun ebenfalls. Jakes Nase fing an, heftig zu bluten, während man bei Toby bereits ein blaues Auge feststellen konnte. "HÖRT AUF!", versuchte ich immer weiter, sie zu beruhigen, doch es war, als wären sie in einer Parallelwelt, in der sie nun die Chance bekamen, ihre gegenseitige Wut aufeinander aus der Vergangenheit endlich auszuleben. Irgendwann, die Sekunden kamen mir wie Stunden vor, schlug Tobys Faust so heftig in Jakes Gesicht, dass er einen Satz zurück machte, und taumelnd mit dem Kopf gegen die Mauer krachte. Keuchend fasste er sich an den Hinterkopf und sah dann seine Finger an. Sie waren blutig.

Ich sah Toby mit weit aufgerissenen Augen an. "Liz, es tut mir leid, ich... ich hatte ja keine Ahnung, dass du..., dass er..." Er vergrub das Gesicht in seinen Händen.

"Toby, geh einfach. Ich denke, das ist das Beste!", sagte ich bestimmend und kniete mich dann neben Jake. Toby sah noch eine Weile zu, doch dann lief er verzweifelt weg.

"Jake... ich wollte das nicht. Du musst mir glauben, da war gar nichts. Ich denke doch immer nur an dich!" Tränen liefen mir über mein Gesicht. Sein Blick war schmerzverzehrt und er konnte kaum sprechen.

"Ich denke auch immer an dich. Deshalb war es so hart, dich mit ihm zu sehen. Nach dem Tag heute mit Mom, ich..." Dann liefen auch ihm die Tränen über die Wangen.
„Das an deinem Kopf ist glaube ich eine ernsthafte Sache. Vielleicht musst du genäht werden. Ich glaube, du bist die zweite Person, die ich heute ins Krankenhaus bringen muss."

Er sah mich entgeistert an. "Aber, ich...ich war in meinem Leben außer bei meiner Geburt noch nie im Krankenhaus. Meine Mom hat mich immer wieder gesund bekommen. Ohne Ärzte!" Er schien plötzlich ganz panisch. Ich wusste also nun, dass nicht nur Judith Angst vor Ärzten hatte. Auch ihr Sohn hatte Panik. Ich gab ihm einen Kuss auf die Wange. "Jake, deine Mom ist aber jetzt nicht hier", sagte ich dann ernst. "Also bringe ich dich jetzt ins Krankenhaus. Später wirst du mir dankbar sein, wenn die Schmerzen nachlassen." Nach einer Weile nickte er widerwillig und wir fuhren ins Krankenhaus. Gemeinsam.

Was für ein Tag!

Verbotene LiebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt