Elf

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Ich bin sprachlos. Und betrunken. Und fuck, seine Lippen sind so weich. Ich weiß, ich sollte ihn zum Teufel jagen, er kann mich nicht mal leiden und benutzt mich nur, doch seine Zunge streicht sanft über meine Unterlippe und natürlich öffne ich meinen Mund.
Natürlich lasse ich unsere Zungen sich umspielen und natürlich wandern meine Hände in seine Haare und ziehen ihn noch dichter an mich. Ich bin ein Idiot.
Ich kann nicht.

Ich reiße meine Augen auf und im gleichen Moment macht er einen Schritt zurück und starrt mich an. Wir beide atmen schwer und genau in dem Moment kommt Carl hereingestürmt.
„Hey, Leute," ruft er und sieht dabei verwirrt zwischen uns hin und her. „Alles klar? Ihr geht euch nicht an die Gurgel, oder?"
Tom starrt mich noch immer an und schüttelt seinen Kopf.
Bitte sag nichts.

„Nein, alles gut. Tom musste nur mal pinkeln und ich gehe jetzt nach Hause," erkläre ich ruhig. Mein Kopf dreht sich und ich bin nicht sicher, ob vom Alkohol oder von seinem Kuss oder von seinem Verhalten.
„Betty hat mich gebeten, nach dir zu sehen. Alles gut, Alter?" fragt mich Carl. Ich nicke und antworte, mein Blick ist noch immer auf Tom gerichtet: „Ja, aber ich hatte wohl mehr als genug."
„Soll ich dich nach Hause bringen?" bietet Carl an.
„Was?" frage ich. „Nein, Betty killt mich. Ihr seid gerade erst gekommen. Ich wohne nicht weit von hier. Ich nehme die U-Bahn."

Carl sieht Tom fragend an und dieser sagt sofort: „Ich bringe ihn, dann habt ihr Zeit für euch. Ich hatte ohnehin keine große Lust."
Meine Augen formen sich zu Schlitzen.
Nicht sein Scheißernst.
Carl klopft Tom erleichtert auf die Schulter und gemeinsam gehen wir zu Betty.

Ich umarme meine beste Freundin zum Abschied, nachdem ich ihr zwölf Mal versichert habe, dass ich okay bin und nicht von Grumpy Cat nach Hause gebracht werden muss. Sie will davon nichts hören und ich habe das schleichende Gefühl, dass ihr dieser Umstand hervorragend in die Karten spielt und sie und Carl die freie Wohnung für ein kleines Schäferstündchen nutzen werden.

Also sitze ich nun neben Tom in der U-Bahn und tue so, als würde ich ihn nicht kennen. Ich tue so, als würde ich nicht heimlich auf seine langen Finger starren, die auf seinem Oberschenkel liegen. Oder als würde ich ihn nicht heimlich in der Reflexion in der Scheibe beobachten.

Er sagt nichts und scheint auch nichts zu denken. Zumindest höre ich nichts. Vielleicht hat es auch aufgehört, weil ich ihm gesagt habe, er soll sich verpissen. Einerseits würde mich das freuen, andererseits-
Fuck, ich will dich nochmal küssen.

Okay, es ist noch da. Und obwohl er mich nicht ansieht, weiß ich, dass er mich meint. Was stimmt nicht mit ihm? Erst hasst er mich, dann will er mich, dann wieder nicht, jetzt wieder doch. Ich bekomme noch ein Schleudertrauma von dem ganzen Hin und Her.

Meine Haltestelle kommt und ohne ihm Bescheid zu geben, stehe ich auf und steige aus der U-Bahn. Er stolpert mir hinterher und ruft: „Kannst du nicht wenigstens sagen, dass wir aussteigen?"
„Wieso?" frage ich im Gehen, ohne mich umzudrehen. „Ich habe nicht darum gebeten, dass du mich verfolgst. Verpiss dich doch einfach, Tom!"
Warum bist du so ein Arschloch?

Ich bleibe stehen und drehe mich wütend um. Da es nach Mitternacht ist, ist der U-Bahnhof menschenleer. Er starrt mich einfach nur an und ich gehe langsam auf ihn zu, bis ich direkt vor ihm stehe.
„Ich bin das Arschloch?" zische ich.
Seine Augen weiten sich vor Schreck, doch ich bin noch nicht fertig. „Du bist doch hier derjenige, der sich nicht entscheiden kann."
Meine Stimme wird langsam lauter. „Du bist Scheiße, Jasper. Lutsch meinen Schwanz, Jasper. Ich hasse dich, Jasper," äffe ich. „Such' jemand anderen, der sich von dir wie ein räudiger Köter behandeln lässt!"

„Das denkst du von mir?" fragt er entsetzt.
„Ja," fauche ich. „Was sollte ich auch anderes denken?"
Sein Mund öffnet und schließt sich, wie ein Fisch, der nach Luft schnappt.
Fuck! Bitte geh nicht! Bitte schick mich nicht weg!

Ich starre ihn an und warte, doch er sagt nichts. Schließlich wird es mir zu dumm und ich strafe ihn mit einem verachtenden Blick, bevor ich mich umdrehe und aus dem U-Bahnhof und zu meiner Wohnung eile.

Ich suche meinen Schlüssel heraus und stelle fest, dass meine Hand zittert. Ich bin so dumm. Und wütend. Auf mich, weil ich mich benutzen lassen habe. Doch noch mehr auf ihn, weil er ein Feigling ist.
Taten zählen mehr als Worte und noch viel mehr als Gedanken.

Ich versuche, meinen Schlüssel in die Haustür zu stecken, doch natürlich fällt er aus meiner zitternden Hand. „Fuck!" schreie ich, obwohl es vollkommen übertrieben und unnötig ist.
Eine fremde Hand mit langen Fingern schießt hervor und hebt mein Schlüsselbund auf, um es mir zu reichen.

Ich rolle mit den Augen und versuche, mir meine Wut und Enttäuschung nicht anmerken zu lassen.
Bitte, Jasper!

„Was willst du von mir??" schreie ich in sein schönes und verzweifelt aussehendes Gesicht, während ich mir die Hände auf die Ohren presse.
Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, was du mit mir machst.

Seine Hände packen mein Gesicht und wieder küsst er mich. Nicht zart und vorsichtig, sondern mit purer Verzweiflung, als würde ich mich gleich in Luft auflösen.
Und ich bin ein Idiot. Und betrunken.
Und so küsse ich ihn mit der gleichen Intensität zurück. Meine Finger ziehen an seinen Haaren und er drückt mich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Hauswand.

Seine Hände halten mich so fest, dass ich morgen vermutlich blaue Flecke an meinen Schläfen habe und wir küssen uns so wild, dass ich befürchte, dass unsere Lippen bald blutig sind.
Bitte schick mich nicht weg! Ich bekomme dich nicht aus meinem Kopf!

Ich beginne, hysterisch zu kichern. Natürlich erkennt er die Ironie der Situation nicht, denn er ist ständig in meinem Kopf, wenn er in meiner Nähe ist. Verwirrt sieht er mich an, seine Lippen rot und geschwollen, seine Haare noch unordentlicher als sonst.

Ich starte einen zweiten Versuch mit dem Schlüssel und dieses Mal öffnet sich die Tür.
Tom steht nur da und starrt mich an.
„Kommst du oder willst du hier draußen weitermachen?" frage ich verschmitzt, bevor ich die Treppen zu meiner Wohnung langsam nach oben gehe. Ich kann mir mein Grinsen nicht verkneifen, als ich seine eiligen Schritte hinter mir höre.

Stimmengewirr | ✓Where stories live. Discover now